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Einige Kliniken bieten Operationen an, obwohl ihnen die Erfahrung dafür fehlt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Statistisch höheres Sterberisiko: Berliner Kliniken führen schwierige Operationen zu selten durch

18 Krankenhäuser in Berlin und Brandenburg erreichen nicht die gesetzlich vorgeschriebene Zahl an Eingriffen. Das Risiko tragen die Patienten.

Wer eine schwierige Operation braucht, will sein Leben normalerweise nur Krankenhäusern anvertrauen, die mit genau dieser Art von Behandlung genug Erfahrung haben. Denn für Patienten ist das Sterberisiko nachweislich in Kliniken geringer, in denen entsprechende Operationen häufiger durchgeführt werden. Dieses Maß an Erfahrung soll die sogenannte Mindestmengenregelung sicherstellen.

Doch diese Regelung greift offenbar zu kurz. Fünf Berliner und 13 Brandenburger Kliniken führten im Jahr 2017 schwierige Operationen in geringer Fallzahl durch, als es die Regelung vorschreibt. Das ist das Ergebnis einer Analyse von RBB und dem "Science Media Center", die dafür die Qualitätsberichte aller 140 Krankenhäuser in Berlin und Brandenburg ausgewertet haben.

In Kliniken mit wenig Erfahrung steigt das Risiko zu sterben

Konkret geht es dabei um schwierige Operationen an Bauchspeicheldrüse und Speiseröhre, den Einbau von Kniegelenksprothesen sowie Nieren-, Leber- und Stammzelltransplantationen. Nach Recherchen des RBB führten Berliner und Brandenburger Kliniken im Jahr 2017 insgesamt etwa 10.600 solcher Operationen durch. 224 davon wurden in Krankenhäusern vorgenommen, die die gesetzlichen Mindestmengen-Vorgaben nicht erreichten.

Aus einer Studie, an der auch Wissenschaftler der TU Berlin beteiligt waren, geht hervor: Wenn sich Patienten an solchen Kliniken einer schwierigen Operation der Speiseröhre oder der Bauchspeicheldrüse (Pankreas), einer Nierentransplantation oder einem Kniegelenkersatz unterziehen, haben sie ein signifikant erhöhtes Sterberisiko gegenüber derselben OP in einem Krankenhaus, das die geforderten Mindestmengen erfüllt. Zudem treten Komplikationen nach Operationen bei fünf der sechs Mindestmengen-OPs deutlich häufiger auf, wenn Kliniken zu wenig Erfahrung mit diesen Eingriffen haben.

Bei Komplikationen können Kliniken bis zu 150.000 Euro abrechnen

Der RBB führt an, dass allein zehn Kliniken in Berlin und Brandenburg im Jahr 2017 Pankreas-Eingriffe unterhalb der Mindestmenge von zehn Operationen durchführten. Und das, obwohl in solchen Kliniken laut der genannten Studie im Durchschnitt 11,5 Prozent der Patienten an dem Eingriff versterben, in spezialisierten Zentren mit mehr als 96 Eingriffen pro Jahr hingegen nur 6,5 Prozent.

"Der Grund dafür ist auch, dass die Kliniken Geld machen wollen, jeder Patient bringt Geld", sagte der Gesundheitsökonom Reinhard Busse von der TU Berlin dem Tagesspiegel. So rechne eine Klinik laut AOK-Nordost für eine Bauchspeicheldrüsen-OP rund 20.000 Euro ab, bei Komplikationen gar bis zu 150.000, berichtet der RBB. Das Klinikum Niederlausitz, das im Jahr 2017 sechs Pankreas- und drei Speiseröhren-OPs durchgeführt hat und somit unter der Mindestmenge blieb, gab gegenüber dem Tagesspiegel an, dass eine Speiseröhren-Operation durchschnittlich mit 14.000 Euro vergütet werde.

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Dass die Kliniken die Mindestmenge unterschritten, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie illegal handelten. So können Krankenhäuser mit Ausnahmeregelungen die Mindestmengen für einen Übergangszeitraum unterschreiten, etwa wenn eine OP als Notfall-Eingriff erfolgt, wenn ein Chirurg mit einer Erlaubnis für eine bestimmte OP an ein kleineres Haus wechselt, wo er den Leistungsbereich neu aufbauen will oder wenn ein Krankenhaus sich personell neu ausrichtet, also zum Beispiel den chirurgischen Chefarzt verliert und dann erst einmal die Mindestmengen nicht erreichen kann. Allerdings verfehlten vereinzelt auch Kliniken ohne Ausnahmegrund die Mindestmengen, berichtet der RBB, etwa das Achenbach-Klinikum Königs-Wusterhausen.

Der RBB gab den betroffenen Kliniken Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme. Das Achenbach-Klinikum habe eine solche Anfrage unbeantwortet gelassen. Das Elbe-Elster-Klinikum in Herzberg aber, das 2017 sechs Pankreas-Operationen durchführte und damit (mit Ausnahmeregelung) unter der Mindestmenge blieb, bestritt, dass finanzielle Überlegungen dabei eine Rolle gespielt hätten. Vielmehr sei es um eine "wohnortnahe, regionale Versorgung" gegangen. Reinhard Busse hält nichts von dieser Argumentation: "Wir wissen, wie viel höher die Sterblichkeit in solchen Kliniken ist, da kann man nicht mit Versorgung argumentieren."

"Zu Ikea fahren die Leute doch auch stundenlang"

Dass sich die Zustände nur aufgrund der neuen Mindestmengenregelung ändern, glaubt Busse nicht. Vielmehr stehe zu befürchten, dass die Kliniken auch weiterhin Sonderregelungen aushandeln wollen. "Dabei müsste vor allem geprüft werden, ob es überhaupt nötig ist, dass Krankenhäuser solche Operationen neu – und damit zusätzlich – anbieten", sagt Busse. Er hält die Mindestmengenregelung für eine "Krücke, die nur nötig ist, weil wir so viele Krankenhäuser haben und jede Klinik alles machen will".

Deshalb plädiert Busse zum Beispiel dafür, dass nur zertifizierte Krebszentren die Erlaubnis erhalten, schwierige Operationen durchzuführen. Das Argument, dass Patienten dann eine weitere Anreise hätten, lässt er nicht gelten: "Zu Ikea fahren die Leute doch auch stundenlang, aber für eine lebensrettende OP soll das Krankenhaus möglichst gleich gegenüber sein."

Gesetzliche Krankenkassen entziehen Abrechnungserlaubnis

Solange aber noch eine Mindestmengenregelung nötig sei, sei es umso wichtiger, dass sich Patienten gut informieren, bevor sie sich bei einer geplanten Operation für eine Klinik entscheiden. Busse rät, nachzufragen, ob die Kliniken die erforderliche Erfahrung vorweisen können. "Falls nicht, sollte man sich dort nicht behandeln lassen."

Auch die einweisenden Ärzte sieht er in der Pflicht, diesen Aspekt zu berücksichtigen. Und schließlich werde viel darauf ankommen, wie konsequent die Krankenkassen jene Krankenhäuser bestrafen, die die Vorgaben nicht einhalten.

Zumindest erste Konsequenzen gibt es bereits. Wie der RBB berichtet, haben die Landesverbände der gesetzlichen Krankenkassen inzwischen dem Elbe-Elster-Klinikum in Herzberg und dem Klinikum Niederlausitz die Abrechnungserlaubnis für die schwierige Pankreas-Operation entzogen. Das Klinikum Niederlausitz teilte dem Tagesspiegel auf Anfrage mit, komplizierte Speiseröhren-OPs würden nun an Häusern der Maximalversorgung in Berlin, Dresden und Cottbus versorgt.

Jedes vierte deutsche Krankenhaus bleibt Auskünfte schuldig

Auch bundesweit ist die Bilanz der alten Mindestmengenregelung mager: Laut der Analyse des Science Media Center und des Projekts Weisse Liste der Bertelsmann Stiftung erreichten 40 Prozent der deutschen Kliniken, die OPs aus dem Mindestmengenkatalog durchführen, eine oder mehrere der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestfallzahlen nicht.

Ein Viertel der Kliniken blieb 2017 die verpflichtende Auskunft zu einer oder mehreren Mindestmengen in ihrem Qualitätsbericht schuldig. Das macht es Patienten schwer, sich eigenständig und gut informiert für ein Krankenhaus zu entscheiden.

Die Rate an Kliniken, die die Mindestfallzahlen nicht erfüllen, unterscheidet sich zwischen den Bundesländern erheblich. Den höchsten Anteil an Kliniken, die mindestens eine Mindestmenge nicht erreichen, hat demnach Bremen mit 62,5 Prozent. Die geringste Rate hat mit 29,2 Prozent Mecklenburg Vorpommern.

Bislang prüft der Gemeinsame Bundesausschuss, der die Qualitätsberichte herausgibt, weite Teile der Berichte weder auf Vollständigkeit noch auf Plausibilität. Die Kliniken haben bislang meist keine Nachteile, wenn sie keine Angaben zu ihren Mindestmengen-Eingriffen machen.

Mindestmengen – Ein Mindestmaß für die Erfahrung

Die Mindestmengenregelung (MMR) soll gewährleisten, dass schwierige Operationen nur an Zentren durchgeführt werden, die über genug Erfahrung mit diesen Eingriffen verfügen. Die Mindestmengen betragen 50 Operationen für Kniegelenkersatz, 20 Leber-, 25 Nieren-, 25 Stammzelltransplantationen sowie 10 Speiseröhren und Bauchspeicheldrüsen-OPs.

MMR gibt es seit 15 Jahren. Bisher sollten die gesetzlichen Krankenkassen im Nachhinein überprüfen, ob Kliniken die Regelung eingehalten haben und – falls nicht – die Bezahlung verweigern. Seit diesem Jahr erteilen die Krankenkassen die Erlaubnis zur Behandlung, bevor Patienten operiert werden und die Behandlung bezahlt wird.

Grundlage dafür sind die Fallzahlen aus dem Vorjahr. Lehnen die Krankenkassen ab, darf die Klinik die OP im Folgejahr nicht durchführen. Es wird jedoch weiter Ausnahmen geben, mit denen Kliniken die Mindestmengen unterschreiten dürfen.

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