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Politik

Das Betten-Dilemma

Viele EU-Länder haben zu wenig Intensivbetten. Warum verteilt man also nicht die Patienten europaweit? Es ist eine Frage von Leben und Tod

Das Coronavirus breitet sich weiter aus, in der EU sind Ländern wie Italien, Frankreich und Deutschland besonders schwer von der Pandemie betroffen. Aufrufe zur europäischen Solidarität gab es mittlerweile viele, beim ersten EU-Video-Gipfel vor zwei Wochen. „Wir haben die Notwendigkeit eines gemeinsamen europäischen Ansatzes und einer engen Abstimmung mit der Europäischen Kommission unterstrichen“, hieß es damals im Abschlussdokument.

Die Finanzminister der Eurogruppe sprachen am Dienstag von einer „neuen Verteidigungslinie“ gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Aber die europäische Solidarität sich bislang eher im wirtschaftlichen Bereich, nicht im humanitären. Da gibt es eher Symbolpolitik: So hatten deutsche Kliniken in den letzten Tagen Intensivpatienten aus den Nachbarstaaten Frankreich und Italien aufgenommen, sie wurden auf mehrere Kliniken in Baden-Württemberg und in Leipzig aufgeteilt. Auch einige italienische Patienten wurden nach Deutschland ausgeflogen. In beiden Fällen handelt es sich um sehr wenige Menschen.

Aber warum sollte es nicht möglich sein, in großem Stil ein gemeinsames europäisches Kontingent für Intensivbetten zu schaffen? Könnten nicht jene Länder, die gerade nicht so stark von der Krise betroffen sind, ihre Intensivstations-Zimmer für Patienten aus jenen Ländern öffnen, die überlastet sind? Denn die Plätze auf der Intensivstation sind das rarste und höchste Gut der Corona-Krise: Wer einen bekommt, hat trotz schwerer Symptome gute Überlebenschancen. Viele Schwerkranke, für die kein solcher Platz mehr das ist, müssen sterben – eine Situation, die in Italien und nun auch in Spanien bereits eingetreten ist.

Die Rufe nach einer europäischen Lösung für die Verteilung von Schwersterkrankten werden deshalb lauter. So fordert Peter Liese (CDU), gesundheitspolitischer Sprecher der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament gegenüber WELT. „Die EU-Kommission sollte bei der Verteilung von Kranken mit schweren Symptomen auf Intensivbetten eine stärker koordinierende Rolle spielen. Sie sollte die Länder ermutigen, freie Intensiv-Kapazitäten zu melden.“ Katarina Barley (SPD), Vize-Präsidentin des Europäischen Parlaments, sieht das ähnlich. Die EU-Kommission habe viel zu spät angefangen die Maßnahmen in der Krise zu koordinieren. „Sie hat jetzt zwar damit begonnen, die Beschaffung und Verteilung von medizinischen Hilfsgütern zu organisieren“, sagt Barley. „Aber denkbar wäre auch, dass sie die Auslastung von Krankenhäusern organisiert. Das machen die Mitgliedstaaten momentan unter sich aus.“

Aber ist das realistisch? Zunächst einmal: Die EU-Staaten erheben Ihre Daten zu Intensivbetten sehr unterschiedlich, ein Überblick über die Kapazitäten und Auslastung einzelner Ländern zu bekommen, ist deshalb schwierig. Aber die Auswertung von Regierungsstatements, Presseberichten und wissenschaftlicher Erhebungen, legt nahe, dass es momentan in einigen Ländern noch Kapazitäten gibt, während andere EU-Staaten dringend auf Hilfe angewiesen sind.

Besonders dramatisch ist die Lage in Italien, wo mindestens 6800 Menschen an den Folgen des Corona-Virus starben und derzeit etwa 3.400 Personen an einem Intensivplatz behandelt werden. Die maximale Anzahl an Intensivplätzen ist nach den aktuellsten offiziellen Zahlen des Gesundheitsministeriums damit beinah erreicht: Vor zwei Jahren wurde eine Gesamtzahl von 5.090 Betten angegeben – und viele der Betten werden natürlich weiter für Nicht-Corona-Patienten benötigt.

Ohnehin längst überschritten sind die Kapazitäten einzelner, besonders schwer betroffener Städte und Regionen. Allein in der Lombardei sind fast 1.200 Patienten in Intensivbehandlung, nach Berichten müssen Krankenhäuser dort bereits viele Intensivfälle abweisen – oder sie in andere Regionen schicken. Auch in Spanien sind nicht alle Kliniken an der Kapazitätsgrenze, doch einzelne Regionen sind überfordert. Landesweit soll es aktuell 4627 Intensivbetten geben, allein in der Hauptstadt Madrid wurde jedoch bereits am Montag die Zahl von 1000 Intensivpatienten überschritten. Die Regierung richtet nun in Kliniken, aber auch Messehallen und Hotels unter Hochdruck weitere Plätze für die Intensiv-Versorgung von Corona-Patienten ein.

In französischen Kliniken gibt es knapp 13.000 Intensivbetten. Davon dürften rund knapp 10.000 durch Nicht-Corona-Patienten blockiert sein. Von den verbleibenden rund 3000 Betten sind derzeit bereits 2000 mit Corona-Patienten belegt. Besser ist die Versorgungslage aktuell etwa in Polen, wo mit 10.167 Intensivbetten abrufbar sind. Zudem hat Polen bisher die Epidemie durch sehr rigorose Maßnahmen gut unter Kontrolle und bisher nur wenige infizierte. Alle Länder bemühen sich aktuell, ihre Kapazitäten zu erhöhen: So werden etwa in öffentlichen und Privatkliniken neue Plätze geschaffen oder andere Flächen umgebaut, nicht lebenswichtige Operationen verschoben oder Beatmungsgeräte dort gesammelt, wo die meisten schweren Fälle behandelt werden.

Wie aber ist die Lage in Deutschland? Zahlen sind nicht leicht zu finden. Ein aktueller Bericht des Science Media Center und der TU Berlin nennt als Gesamtzahl der Intensivbetten in Deutschland rund 28.000. Doch gilt es bei der Frage nach Kapazitäten zu beachten, dass es auch abgesehen von Corona einen hohen Bedarf nach solchen Plätzen gibt. So waren laut Bericht im Jahr 2017 die Intensivbetten zu 79 Prozent belegt, 5586 betten blieben demnach leer.

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Nach neusten Informationen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sind aktuell rund 1000 Intensivbetten von Corona-Patienten belegt, weitere 4.000 Infizierte mit weniger gravierendem Krankheitsverlauf sind bundesweit auf Krankenhäuser verteilt. Ginge man von diesem Verhältnis zwischen freien Intensivbetten und Fallzahlen aus, wären aktuell mehrere tausend Plätze verfügbar. Aber ist nicht angesichts von aktuell 30.000 Corona-Erkrankten und einer weiter ansteigenden Infektionskurve davon auszugehen, dass die Intensivbetten bald zunehmend von deutschen Patienten gebraucht werden? Die Verteilung von Schwerstkranken sei derzeit angesichts der vorhandenen Kapazitäten durchaus noch möglich, sagt Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen, der maßgeblich am Bericht des Science Media Center beteiligt war. Zur Frage, wie sich die Lage in den kommenden Wochen entwickelt, hielt der Forscher sich bedeckt. Was die konkrete Planung solcher Transporte angehe, müssten bestimmte grundlegende Dinge berücksichtigt werden, sagte der Experte. „Man muss beachten, wann der Transport von Schwersterkrankten logistisch überhaupt Sinn ergibt.“ Dies sei der Fall, wenn etwa Corona-Kranke, wie zu Beginn dieser Woche, aus dem Elsass nach Freiburg oder in nahegelegene Einrichtungen transportiert werden. „Einen Jumbojet umrüsten und hunderte Patienten aus weit entfernten Regionen einfliegen, wäre jedoch ein erheblicher Aufwand“ und deshalb im großen Stil schwer vorstellbar, so der Experte.

Die „regionale Lösung“, ob national oder über eine nahe Landesgrenze hinweg, sei deshalb grundsätzlich besser geeignet. Die Pläne für die Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag deuten darauf hin, dass die Mitgliedstaaten nur zögerliche Schritt in diese Richtung unternehmen wollen. Das zeigen die vorab formulierten Beschlüsse des Gipfels, die WELT vorliegen. Demnach werden die Gipfelteilnehmer wohl die Mitgliedstaaten auffordern, der Kommission zeitnah und verlässlich Daten zu medizinischer Ausrüstung zu liefern, damit die Kommission eine ausreichende Versorgung in ganz Europa sichern kann.

Dass die – für viele erkrankte Europäer überlebenswichtige – Verteilungsfrage beantwortet wird, ist jedoch unwahrscheinlich: Auch Tiemo Wölken, der gesundheitspolitische Sprecher der Europa-SPD, ist an dieser Stelle wenig zuversichtlich, dass die Intensivbetten-Frage solidarisch gelöst wird. „Das haben wir gesehen, als die EU nach der letzten Waldbrandsaison versucht hat, Feuerwehrausrüstung in Europa zu verteilen“, sagte er WELT. „Die Mitgliedstaaten haben sich damals mit Händen und Füßen dagegen gewehrt Kapazitäten verpflichtend bereitzustellen.“

Mitarbeit: Elisalex Henckel,Philipp Fritz,Tobias Kaiser,Virginia Kirst,Martina Meister,Tim Röhn,Christoph B. Schiltz

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