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Intensivmedizin in der Coronakrise Deutsches Bettenlager

Die Corona-Pandemie traf Länder wie Italien auch deshalb so hart, weil Intensivbetten fehlten. In Deutschland sind viele Kapazitäten frei - doch eine zweite Infektionswelle könnte den Vorsprung zunichtemachen.
Intensivstation für Covid-19-Patienten in einem Krankenhaus in Berlin: Knapp 14.300 Intensivbetten in Deutschland sind aktuell frei

Intensivstation für Covid-19-Patienten in einem Krankenhaus in Berlin: Knapp 14.300 Intensivbetten in Deutschland sind aktuell frei

Foto: FABRIZIO BENSCH/ REUTERS

Fachleute sorgen sich vor allem aus einem Grund um das neue Coronavirus: Weil niemand immun ist, breitet sich der Erreger ohne Gegenmaßnahmen sehr schnell und dadurch unkontrollierbar aus. Erkranken zu viele Menschen auf einmal schwer, könnten die Behandlungsplätze auf den Intensivstationen knapp werden.

Das war etwa in Italien der Fall, wo zahlreiche Menschen an dem Virus gestorben sind, weil sie schlicht nicht behandelt werden konnten. In Deutschland gab es schon vor Ausbruch des Coronavirus deutlich mehr Intensivbetten als in vielen anderen Staaten (siehe Grafik unten). Dennoch riefen auch Behörden hierzulande die Krankenhäuser auf, möglichst viele Kapazitäten auf den Intensivstationen frei zu halten.

Geplante Operationen wurden daraufhin abgesagt und zusätzliche Räume mit Beatmungsgeräten ausgestattet. Die Maßnahmen haben Wirkung gezeigt, berichtet die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) nun.

Demnach gibt es in Deutschland inzwischen fast 34.000 Intensivbetten. Zu Beginn der Pandemie waren es 28.000. Das entspricht einem Anstieg von 34 auf 39 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner. In welchem Bundesland es im Verhältnis zur Einwohnerzahl die meisten Betten gibt, zeigt die Grafik unten.

14.500 Intensivbetten sind leer

Experten der DIVI versuchen sich seit Beginn der Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland auch einen Überblick über die Zahl der freien Intensivbetten zu verschaffen. Zunächst sollten Kliniken mit Intensivstationen ihre Kapazitäten dazu freiwillig an ein Register melden. Seit dem 16. April ist das verpflichtend.

An diesem Donnerstag sind dieser Aufforderung bis 10 Uhr, eine Stunde nach Meldefrist, allerdings nur 1118 der 1160 Krankenhäuser im Intensivregister nachgekommen. Daten von etwa 40 Kliniken fehlten. Dadurch schwankt die Zahl der erfassten Intensivbetten von Tag zu Tag etwas. Insgesamt ergibt sich aber ein positives Bild.

Von den verfügbaren Intensivbetten sind laut den Auswertungen der vergangenen Tage nur etwa 60 Prozent belegt, zehn Prozent von Covid-19-Patienten. Knapp 14.300 Intensivbetten in Deutschland sind aktuell frei. Wie die Lage in Ihrem Bundesland ist, sehen Sie unten.

"Als das Coronavirus angefangen hat, sich in Deutschland auszubreiten, gab es viele Unsicherheiten, auch weil wir viele Zahlen nicht genau kennen", sagt Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen der TU Berlin. "Die Menge der nachweislich Infizierten ist zu dieser Zeit noch jeden Tag deutlich angestiegen und es war unklar, welcher Prozentsatz auf den Intensivstationen landen würde. Außerdem hatten wir keinen Überblick, welche Klinik gerade wie viele freie Beatmungsplätze hat."

Eine hohe, aber endliche Reserve

Auf Basis der Erfahrungen aus dem Ausland sei es während der exponentiellen Ausbreitung des Virus daher zunächst darum gegangen, möglichst viele Betten freizuhalten. "Zu Beginn waren ungefähr 75 bis 80 Prozent der Intensivbetten in deutschen Kliniken mit Nicht-Corona-Patienten belegt, das wurde jetzt auf rund 50 Prozent reduziert, indem Behandlungen, die verschoben werden konnten, verschoben wurden", sagt Busse.

Gleichzeitig ist es gelungen, die Ausbreitung des Virus deutlich zu bremsen. Die Zahl der nachgewiesenen Infektionen steigt inzwischen nur noch langsam, die Patientenzahlen auf den Intensivstationen stagnieren.

"Die hohe Zahl freier Betten ist daher derzeit nicht notwendig", so Busse. Anfangs sei man noch davon ausgegangen, dass ungefähr zehn Prozent der nachweislich Infizierten für im Schnitt sieben Tage auf einer Intensivstation behandelt werden müssten, jetzt würde der Prozentsatz niedriger, die Behandlungsdauer jedoch länger geschätzt.

Im Ergebnis könne die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland auf etwa 20.000 pro Tag ansteigen, ohne dass das Gesundheitssystem an seine Grenzen komme - vorausgesetzt, das Personal bliebe gesund.

Geplante Operationen könnten zunächst wieder stattfinden

"Von 20.000 Neuinfektionen am Tag sind wir weit entfernt, sodass wir die Reserve reduzieren können", sagt Busse. Derzeit werden ungefähr 2000 neue Infektionen pro Tag erfasst, Tendenz sinkend. Gesundheitsminister Spahn hat daher vorgeschlagen, statt 50 Prozent künftig nur noch 25 Prozent der Intensivkapazitäten für Corona-Patienten vorzuhalten. Geplante Operationen könnten dann wieder stattfinden.

Allerdings müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Die Infektionszahlen dürfen nicht wieder exponentiell ansteigen. Und Deutschland bräuchte ein Frühwarnsystem, das die Kliniken rechtzeitig informiert, falls das doch wieder der Fall sein sollte, so Busse. Zugutekommt dem System dabei, dass die Zahl der Intensivpatienten zeitverzögert ansteigt.

Bis ein Infizierter nach einem positiven Corona-Test gegebenenfalls auf der Intensivstation behandelt werden muss, vergehen einige Tage. Nicht-Corona-Patienten verbringen ungefähr vier Tage dort. "Es bleibt also Zeit, die Bettenkapazität im Fall einer zweiten Infektionswelle wieder hochzufahren", sagt Busse. Bei kurzfristigen regionalen Engpässen sei es möglich, beatmungsbedürftige Patienten in weniger frequentierte Kliniken zu verlegen.

Auch Forscher um Karl-Heinz Jöckel vom Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie des Universitätsklinikums Essen kommen in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass in Deutschland vorerst nicht damit zu rechnen ist, dass die Intensivkapazitäten knapp werden, solange die Infektionszahlen nicht erneut exponentiell steigen.

"Ziel war es, die maximale tägliche Anzahl von Covid-19-Fällen zu bestimmen, die vom 11. April bis zum 30. Juni 2020 auf Intensivstationen behandelt werden müssen", schreiben die Forscher im "Deutschen Ärzteblatt" . Sie rechneten drei Szenarien durch.

Im ersten gehen sie davon aus, dass die Zahl der Infektionen linear wächst, also jeden Tag die gleiche Zahl Neuinfektionen hinzukommt. Im zweiten und dritten Szenario nehmen sie einen langsamen und schnellen quadratischen Anstieg der Infektionen an. Ein quadratisches Wachstum bedeutet, dass die Zahlen mit der Zeit deutlich ansteigen, der plötzliche, extreme Zuwachs wie beim exponentiellen Wachstum bleibt aber aus.

Ausgangspunkt der Rechnung ist der 10. April. Die Forscher nehmen an, dass an dem Tag in Deutschland etwa 117.500 Infektionen bekannt waren und gut 4100 Fälle neu entdeckt wurden. Das entspricht ganz grob den realen Zahlen. Außerdem gehen die Forscher davon aus, dass acht Tage nach dem Nachweis einer Corona-Infektion zwischen drei und zehn Prozent der Infizierten für 14 bis 20 Tage auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. Die meisten so errechneten Beispiele würden das deutsche Gesundheitssystem nicht gefährden.

Studie attestiert reichlich Puffer

In der zurückhaltendsten Rechnung der Forscher wächst die Zahl der Infektionen linear, drei Prozent der Infizierten kämen auf eine Intensivstation und müssten dort zwei Wochen behandelt werden. Die maximale Patientenzahl wäre dann bereits am 14. April mit knapp 2000 Covid-19-Patienten auf deutschen Intensivstationen erreicht gewesen. Hätten zehn Prozent der Infizierten im linearen Szenario auf eine Intensivstation gemusst und wären dort 20 Tage geblieben, hätte das Maximum am 20. April bei 9300 Patienten gelegen.

Zur Erinnerung: Derzeit liegen etwa 2800 Covid-19-Patienten auf deutschen Intensivstationen.

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Auch im langsam quadratischen Szenario wird die Kapazität von etwa 17.000 Intensivbetten für Corona-Patienten nicht überschritten. Abhängig davon, wie viele Infizierte auf einer Intensivstation behandelt werden müssten und wie lange sie dort lägen, ergäbe sich bis 30. Juni eine Patientenzahl von maximal 3132 bis 14.616 Covid-19-Intensivpatienten.

Intensivkapazitäten zentral verteilen

Im schnellen quadratischen Szenario gibt es allerdings drei Fälle, wo die Kapazitätsgrenze bis Ende Juni fast erreicht oder überschritten würde. Allerdings nur dann, wenn sehr viele der nachweislich Infizierten intensivmedizinisch behandelt werden müssten, nämlich acht bis zehn Prozent. Derzeit liegt der Anteil deutlich darunter.

Außerdem rechneten die Experten mit einer langen Liegezeit von im Schnitt 20 Tagen. Die Zahl der Corona-Intensivpatienten läge am 30. Juni dann zwischen gut 16.700 und knapp 21.000 Fällen.

"Solange es zukünftig in Deutschland nicht zu einem exponentiellen Anstieg der Covid-19-Fallzahlen kommt, erscheint die aktuelle bundesweite Intensivbettenkapazität hinreichend", schlussfolgern die Forscher. Allerdings führen sie nicht aus, was ein quadratisches Wachstum über den 30. Juni hinaus bedeuten wurde, wenn die Zahl der Menschen auf den Intensivstationen immer weiter zunehmen würde.

Was die Corona-Statistik verrät – und was nicht

Die offiziell gemeldete Zahl der Infizierten bezieht sich ausschließlich auf mit Labortests nachgewiesene Infektionen. Wie viele Menschen sich tatsächlich täglich neu infizieren und bislang infiziert waren, ohne positiv getestet worden zu sein, ist unklar. Antikörperstudien zeigen, dass es eine erhebliche Dunkelziffer an unentdeckten Infektionen gibt.

Die offizielle Zahl der Toten beschreibt, wie viele Menschen mit dem Virus gestorben sind. In wie vielen Fällen die Infektion ursächlich für den Tod war, lässt sich daraus nicht unmittelbar ablesen. Obduktionsstudien zeigen aber, dass bei den meisten Toten die Covid-19-Erkrankung auch die Todesursache war.

Mehr Informationen dazu, was im Umgang mit Corona-Daten zu beachten ist und welche Quellen der SPIEGEL nutzt, lesen Sie hier.

Zudem fordern sie, dass die Verteilung der Intensivbetten künftig zentral und einheitlich gesteuert werden müsse, um alle Kapazitäten zu nutzen und regionale Häufungen abzufangen. Derzeit sei das nicht der Fall, sodass es Krankenhäuser mit Überlastung der Intensivstationen und andere Krankenhäuser mit geringer Belastung der Intensivstationen geben könne.

Beatmung ist nicht gleich Beatmung

Wie wichtig eine zentrale Verteilung werden könnte, zeigen auch die DIVI-Daten. Denn nicht jedes Krankenhaus hat die gleiche Beatmungsausstattung. Bei knappen Kapazitäten müssten die Patienten auf die für sie passende Versorgung verteilt werden. Die DIVI unterscheidet auf Intensivstationen zwischen Low-Care-, High-Care- und sogenannten Ecmo-Betten.

Im Low-Care-Bereich können Patienten mit einer Maske beatmet werden, High-Care bedeutet, dass sie ins Koma gelegt und über einen Tubus invasiv beatmet werden können. Ecmo bezeichnet ein Verfahren, bei dem Blut in einer Art künstlicher Lunge außerhalb des Körpers mit Sauerstoff angereichert wird.

Die meisten Intensivbetten gibt es der heutigen Auswertung zufolge mit rund 23.500 im High-Care-Bereich. Im Low-Care-Bereich sind es etwa 9500. Beide Bereiche sind derzeit zu etwa 60 Prozent ausgelastet. Die wenigsten Betten stehen mit etwa 700 im Ecmo-Bereich zur Verfügung. Sie werden nur in sehr schweren Fällen gebraucht und sind derzeit zu etwa 30 Prozent belegt.

Angst vor zweiter Infektionswelle

In allen drei Bereichen sind also reichlich Betten frei. Dennoch bleiben die Kliniken in Alarmbereitschaft. Wie sich die Zahl der Corona-Fälle in den kommenden Wochen und Monaten tatsächlich weiterentwickeln wird, ist offen.

Während die Forscher um Jöckel davon ausgehen, dass es keine zweite exponentielle Ausbreitungswelle des neuen Coronavirus geben wird, warnen andere, die gerade umgesetzten Lockerungen seien ein falsches Signal gewesen und könnten den Betten-Puffer gefährden.

"Dadurch wird die Ansteckungsrate vermutlich wieder über eins steigen - dann haben wir wieder ein exponentielles Wachstum, das man nur sehr schwer unter Kontrolle bekommt", sagte die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum in Braunschweig dem SPIEGEL. (Das Interview lesen Sie hier.) Auch ihr Kollege Christian Drosten von der Charité in Berlin mahnte in seinem Podcast zur Zurückhaltung.

Busse will sich nicht so klar festlegen, rät aber auch zur Vorsicht: "Das ist wie der Blick in die Glaskugel. Wie es weitergeht, hängt maßgeblich davon ab, wie gut die Bevölkerung die Abstandsregeln weiter einhält", sagt er. "Eine unkontrollierte Ausbreitung des neuen Virus gilt es weiter zu verhindern, denn damit kämen selbst unsere guten Reserven an Grenzen."

Die Fallzahlen würden dann wie zu Beginn des Corona-Ausbruchs erneut sprunghaft ansteigen. Die Reserven auf den Intensivstationen könnten je nach Ausmaß des Anstiegs in kurzer Zeit zusammenschrumpfen, wenn keine Gegenmaßnahmen getroffen werden. Brisant dabei: Inzwischen gibt es im Gegensatz zum Beginn der ersten Welle bereits ungefähr 45.000 nachweislich aktive Infektionen über ganz Deutschland verteilt und eine unklare Menge unentdeckter. Würde jeder derzeit Infizierte im Schnitt wieder zwei bis drei Person anstecken, würde die absolute Zahl der Neuinfektionen deutlich stärker ansteigen als noch zu Beginn des ersten Ausbruchs.

Auch die Forscher um Jöckel schreiben daher: "Sollte es doch noch zu einem exponentiellen Anstieg der Fallzahlen kommen, sind unsere Ergebnisse hinfällig."

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