Was kann Deutschland an Neuinfektionen noch bewältigen? Um diese Frage dreht sich gerade vieles, während Bund und Länder weiter über einheitlichere Regeln in der Pandemie streiten. Bußgelder, Vorgaben für Feierlichkeiten und Maskenpflicht: Je nach Bundesland gibt es andere Vorgaben. Wie sinnvoll ist das und worauf kommt es jetzt an? Reinhard Busse erforscht Gesundheitssysteme. Er erklärt, was sich in unserem Verhalten ändern muss und wo es gerade eng wird.

ZEIT ONLINE: Derzeit werden wohl noch bis zum Ende des Sommers verstärkt Urlauberinnen und Reiserückkehrer aus Risikogebieten getestet. Stimmt es, dass wir bloß mehr Corona-Fälle haben, weil wir mehr testen, und dass deshalb alle noch recht gelassen sind?

Reinhard Busse: Es ist nicht so, dass wir mehr positive Fälle haben, weil wir mehr testen.

Reinhard Busse erforscht Gesundheitssysteme. Er ist Professor für Management im Gesundheitswesen an der Fakultät Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin und Fakultätsmitglied der Charité-Universitätsmedizin Berlin. © TU Berlin

ZEIT ONLINE: Was ist der Fehler in dieser Interpretation der Zahlen?

Busse: Mehr Tests sind nicht der einzige Grund dafür, dass wir mehr positive Corona-Fälle finden. Auch am Anfang der Pandemie haben wir bereits relativ breit getestet. Es gibt da einen kritischen Wert, der meines Erachtens in den letzten Monaten zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat: Das ist der Anteil der positiven Tests an allen Tests. Da waren wir schon mal viel besser.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit?

Busse: Man muss immer schauen, wie viele Tests man braucht, bis man einen positiven gefunden hat. Auf dem Höhepunkt der Infektionszahlen Ende März, Anfang April musste man zwölf Tests machen, um einen positiven zu finden. Mitte Juli brauchten wir schon fast 200 Tests. Im Moment ist etwa jeder hunderte Corona-Test positiv – nur mehr Tests erklären das nicht. Selbst wenn wir jetzt die Testanzahl verdoppeln würden und einfach drauf los testen würden oder beispielsweise alle Lehrerinnen und Lehrer, dann müsste die Rate der positiven Tests runtergehen, weil sie etwa weniger Rückkehrer aus Risikoländern dabei hätten. Bei Tests in der Breite sinkt die Prozentzahl der Positiven. Aber aktuell geht sie hoch! Das heißt, wir haben zwar eine höhere Anzahl an Tests, aber wir haben auch einen höheren Anteil an Menschen, bei denen die Tests positiv sind! Der Zuwachs ist real.

Rund einer von hundert Tests ist positiv

Schon Mitte März wurden die Testkapazitäten in Deutschland stark ausgebaut. Wichtiger als die Zahl der Tests selbst ist jedoch die Testpositivrate, also wie viele von allen Tests positiv ausfielen. Nach dem ersten Ausbruch sank sie stark, zuletzt stieg sie wieder leicht an. Weiterhin fällt rund einer von hundert Tests positiv aus.

ZEIT ONLINE: Je schneller dieser Zuwachs, desto eher könnte die medizinische Versorgung leiden. Allerdings haben Sie jüngst in einer Studie mit 10.000 Patientinnen und Patienten gezeigt: Deutschlands Krankenhäuser hatten zu keinem Zeitpunkt der Pandemie zu wenig Betten. Warum sollen wir uns nun Gedanken machen?

Busse: Im März hat man sich um die Kapazität der Intensivbetten gesorgt und sich gefragt, ob die reichen werden. Man hat Engpässe befürchtet. Nur hat sich das glücklicherweise zerschlagen. Es wird bei uns auch in Zukunft keinen Mangel an Betten geben. Außerdem geht der Altersdurchschnitt bei den Neuinfektionen derzeit zurück, die Patienten werden daher jünger sein und weniger schwere Verläufe mit stationärer Aufnahme oder gar Beatmung haben, wodurch die Kapazitäten in den Kliniken noch länger reichen. Ich sehe das Problem ganz woanders.

ZEIT ONLINE: Wo sehen Sie das Problem denn?

Busse: In der Nachverfolgung von Fällen könnte es eng werden. Das hängt an den Kapazitäten der Gesundheitsämter. Wir haben 400 Landkreise, die haben ihre jeweiligen Ämter. Wenn sich wie vor ein paar Tagen 2.000 Menschen am Tag neu infizieren, dann muss so ein Gesundheitsamt alle Kontaktpersonen der fünf Infizierten nachverfolgen – und das jeden Tag! Das ist viel, insbesondere wenn die alle auf Feiern mit vielleicht 50 oder 100 Teilnehmern waren. Wenn da bald die Grenze der Belastbarkeit überschritten ist, wird es wieder mehr unerkannte Infizierte geben. Und da ist meine Sorge, dass schlimmstenfalls das öffentliche Leben wieder runtergefahren werden muss.

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ZEIT ONLINE: Hat man die Nachverfolgung in der ersten Welle nicht gut hinbekommen?

Busse: Die Nachverfolgung ist in den Ämtern zum Teil aufgegeben worden, als die Zahlen dramatisch stiegen. Da sind die einfach nicht mehr hinterhergekommen. Man müsste jetzt aus der Vergangenheit lernen und auch wenn der Anstieg der Infektionen nun langsamer verläuft, sollte man zusehen, dass die Nachverfolgung weiter klappt. Die Gesundheitsämter haben damals auch aus dem Rest der Kommunalverwaltung Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgezogen, die mitgeholfen haben. Da waren aber auch viele Abteilungen geschlossen; jetzt hat etwa die Kfz-Zulassungsstelle wieder geöffnet. Schließt man die wieder? Natürlich wurden auch Studierende und wissenschaftliche Mitarbeiter dazugeholt, aber ob das alles so wiederholbar ist?

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ZEIT ONLINE: Mittlerweile scheinen viele Menschen in Deutschland das Gefühl zu haben, die Lage sei nicht so dramatisch, obwohl die Neuinfektionen wieder zunehmen. Nehmen wir das Risiko nicht richtig wahr?

Busse: Ja, und das liegt auch an den Medien. Auch die seriösen Medien haben sich zu sehr auf Deutschland kapriziert. Die globale Situation ist völlig aus dem Blick geraten. Dabei wird die Pandemie global gesehen immer noch schlimmer, mit jedem Tag. Derzeit haben wir weltweit im Schnitt 250.000 Neuinfektionen pro Tag, auf dem Höhepunkt der Pandemie in Deutschland im April lag diese globale Zahl bei 80.000. Aber weil die Erfolgsmeldungen aus Deutschland monatelang so dominant waren, hat sich festgesetzt: Wir sind durch damit! Es kann langfristig aber auch bei uns nur besser werden, wenn es weltweit weniger Fälle gibt. Solange die Zahlen insgesamt zunehmen, können wir nicht denken, bei uns wäre alles vorbei. Wir sehen es ja, auch auf gut abgeschotteten Inseln wie Neuseeland und Island: Das Virus kann zurückkehren.

ZEIT ONLINE: Was lässt sich nun besser machen?

Busse: Zunächst einmal: Die Kommunikation zu den Risikogruppen war Mist oder zumindest sehr zwiespältig! Natürlich war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Ältere besonderen Risiken ausgesetzt sind, etwa um die Pflegeheime zu schützen. Aber längst sehen wir: Es gibt 40-Jährige, die schwer erkranken, und 80-Jährige, die überhaupt nichts merken. Und trotzdem betrachten sich die Jüngeren als immun! Was natürlich nicht stimmt. Das liegt auch an den epidemiologischen Begriffen, insbesondere dem Wort "Risiko". Das bedeutet in der Fachsprache zunächst nur eine "überdurchschnittliche Wahrscheinlichkeit". So haben die Älteren ein "überdurchschnittliches Risiko", ja, aber es ist nicht so, dass die anderen kein Risiko haben! Vor allem unter Lehrern wird das aktuell total überinterpretiert. Viele von ihnen scheinen zu denken, jeder Mensch über 60 könne nicht mehr arbeiten, weil er Risikopatient sei. Das ist falsch. Stellen Sie sich vor, wenn allein nur alle Ärzte und Ärztinnen und alle Krankenpfleger das so sehen würden. Risiko ist ein Wahrscheinlichkeitsphänomen. Deshalb gibt es auch keine scharfen Grenzen, was das Alter betrifft. Das zeigt auch unsere Studie: So waren von den 10.000 im Krankenhaus behandelten Covid-Patienten fast 30 Prozent unter 60 Jahren; und auch bei den Beatmeten betrug ihr Anteil ein Viertel.