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Pflege betrifft uns alle Für mehr Geld, mehr Zeit, mehr Menschlichkeit – stern startet Bundestags-Petition

Aufruf von Pflegern und Promis: Warum sich in der Pflege dringend etwas ändern muss
Sehen Sie im Video: Die große stern-Pflegepetition – warum sich in der Pflege dringend etwas ändern muss. Unterschreiben Sie hier: stern.de/pflegepetition
Wir alle sind auf Hilfe angewiesen, wenn wir oder unsere Liebsten krank oder alt werden. Doch in Deutschland wird die Pflege kaputtgespart. Der stern startet deshalb jetzt eine Bundestags-Petition: für eine Pflege in Würde.
Von Bernhard Albrecht

Sven Lehmann starb zwischen ein und fünf Uhr morgens. Am Abend zuvor hatte seine Frau Viola ihren hochfiebrigen Mann in die Notaufnahme begleitet. Bis um halb zehn Uhr war sie dageblieben, hatte seine Hand gehalten. Er war zu schwach, um auf die Toilette zu gehen. Um kurz vor acht Uhr entdeckte der Frühdienst den Toten. Laut Leichenschau litt der 34-Jährige an einer bakteriellen Herzentzündung. Die Nachtschwester war vermutlich nie in seinem Zimmer gewesen. Dabei hatte der Arzt regelmäßige Überwachung angeordnet. Doch sie war in jener Nacht allein zuständig für 24 Patienten. Als Viola Lehmann die Nachricht erhielt, eilte sie sofort ins Krankenhaus. Eine Schwester lief ihr auf dem Flur entgegen. Sie weinte. "Frau Lehmann, ich kann nichts dafür, ich habe ihn nur gefunden", rief sie.

Pflegemangel kann tödlich sein

Abwesenheit von Pflege und Pflegefehler können tödlich sein. Sie können zu komplizierten Krankheitsverläufen führen. Beides passiert oft. Eine Hauptursache ist Überarbeitung, wie zahlreiche Studien belegen. Die Krise in Zahlen:

• Drei Viertel aller Pflegekräfte fühlen sich oft gehetzt, knapp die Hälfte schafft das Arbeitspensum nur mit "Abstrichen bei der Qualität", ermittelte der Deutsche Gewerkschaftsbund.

• In den Heimen fehlen laut einem Regierungsgutachten 120.000 Pflegekräfte, in den Krankenhäusern je nach Quelle mindestens 50.000.

• Eine Krankenpflegefachkraft versorgt im Schnitt 13 Patienten – in den USA sind es etwa fünf, in den Niederlanden sieben, in Schweden knapp acht.

• Mehr als jede dritte Pflegekraft leidet unter "emotionaler Erschöpfung" bis hin zum Burnout.

• Ein zusätzlicher Patient pro Pflegekraft im Krankenhaus erhöht das Sterberisiko um sieben Prozent.

• Einer der häufigsten Pflegefehler passiert bei der Gabe von Medikamenten, etwa durch Verwechslung. Auf Intensivstationen passiert das 74,5 Mal pro 100 Patiententagen, so eine internationale Studie.

Gute Pflege steht und fällt mit den Strukturen

Das Aktionsbündnis Patientensicherheit warnt schon lange vor den Gefahren des Pflegekräftemangels: "Man muss das nur mal mit der Flugsicherheit ver­gleichen", sagt Ruth Hecker, Ärztin und Vorsitzende des Bündnisses. "Kein Flugzeug fliegt ohne den Chef-Steward. Falls der krank wird, steht immer einer als ­Reserve bereit. Bei den Pflegekräften gibt es solche Reserven nicht mehr."

Die wichtigste Ressource in der Pflege ist Zeit. Dafür braucht es zuallererst ausreichend Personal
Die wichtigste Ressource in der Pflege ist Zeit. Dafür braucht es zuallererst ausreichend Personal
© Patrick Junker

In einer idealen Welt könnten Pflegekräfte viel Leid verhindern. Sie sind immer nah dran am Patienten. Sie haben einen geschulten diagnostischen Blick. Zwei Beispiele: Ein Altenpfleger sieht, dass bei einer alten Dame der rechte Mundwinkel nach unten hängt. Er ergreift ihre Hand, bittet sie, zuzudrücken, nichts passiert. Schlaganfall! Wird sie ­sofort ins Krankenhaus gebracht, bleibt ihr ein ­Leben im Rollstuhl wohl erspart. Oder: Eine Krankenschwester ­entdeckt nachts bei einem operierten Darmkrebspatienten, der über Bauchschmerzen klagt, dass seine Bauchdecke hart ist. Riss der Wundnaht, Bauchfellentzündung, Indikation für eine Not­fall-OP. Es darf nicht bis zur nächsten ­Visite ge­wartet werden. Gute Pflegekräfte sehen das und leiten das ­Nötige ­sofort ein. Doch sie brauchen Zeit. Diese wertvolle Ressource fehlt überall in Deutschland – gerade jetzt, während der Corona-Pandemie.

Resultat einer verfehlten Gesundheitspolitik

Der Exodus der Pflege aus den Kran­kenhäusern ist die Folge einer seit Jahrzehnten verfehlten Gesundheitspolitik. Deshalb möchten wir, die stern-Redaktion, gemeinsam mit Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, Neuland betreten. Erstmals in unserer Geschichte starten wir eine Bundestags-Petition. Für eine Pflege in Würde. Denn wir sind überzeugt: Die Pflegekrise kann aufgehalten werden. Das kostet Geld. Doch durch eine große Gesundheitsreform können enorme finanzielle Reserven mobilisiert werden. 20 Prozent der Gesundheitsausgaben in Europa werden nach einer Schätzung der OECD verschwendet – für Übertherapie, um Folgen von Fehlbehandlungen zu behandeln, für überbordende Bürokratie und Korruption. In Deutschland wären das, bezogen auf die jährlichen Gesundheitsausgaben, 78 Milliarden Euro. Diesen Schatz gilt es zu heben, bevor Kranken- und Pflegekassenbeiträge ins Uferlose steigen und gute Pflege zu einem Privileg der Reichen wird.

Sie können die Petition ab heute mitzeichnen. Online oder per Unterschrift. Gemeinsam können wir ein deutliches Signal an die Politik senden, dass es Zeit ist, das Gesundheitssystem grundlegend umzukrempeln. Damit die Menschen, die heute schon darauf angewiesen sind, in Würde gepflegt werden können. Und damit keiner von uns Angst vor dem Alter haben muss.

Pflege-Petition: Rettet die Pflege!
Seit Jahren wird die Pflege in Kliniken und Altenheimen kaputtgespart. Nicht erst Corona zeigt, wie gefährlich dieser Kurs ist.
© Lars Berg / stern

In den kommenden Wochen beleuchtet der stern die verschiedenen Pflegewelten: heute Krankenhäuser. Dann Heime und häusliche Pflege. Die Reporter suchten nach zukunftsweisenden Beispielen, nach Arbeitgebern, die es besser machen. Sie sprachen mit Experten darüber, woher das Geld für gute Pflege kommen könnte.

Corona verstärkt die Krise

Wibke Jung (Name von der Redaktion geändert) arbeitet im OP-Bereich des St. Elisabeth Hospitals in Gütersloh. Eigentlich. Doch seit Anfang November geht es dort rund, alle vier Krankenhäuser des Kreises hatten ihre Kapazitätsgrenze erreicht. Trotzdem lief der Routinebetrieb weiter. "Eingriffe an der Schulter, am Knie, an der Hüfte, junge Patienten, wo ich mich schon fragte, muss das jetzt noch sein?" Die Intensivstation füllte sich mit Covid-19-Patienten. Mitte November wurde sie abgeriegelt. Ein OP-Aufwachraum diente seitdem als provisorische In­tensiv­station für nicht infizierte Patienten. Doch noch immer lief das Routineprogramm weiter. Die Pflegekräfte im OP wurden zu Springern, mussten jederzeit bereitstehen, auf Intensiv auszuhelfen. "Wir arbeiten nach einem doppelten Dienstplan", sagte Jung in einem Gespräch Mitte Dezember. Kein Tag, kein ­Wochenende sei planbar, Früh-, Spät-, 24-Stunden-Schichten folgten ­willkürlich aufeinander. Auch für die Schwerkranken sei die Situation schwer erträglich. "Es sieht aus wie im Lazarett. Die Patienten haben keine Privatsphäre, wir können ihnen nicht immer ihre ­Würde bewahren." Die Geschäftsführung antwortet auf Anfrage, die Wahrnehmung der Mitarbeiterin repräsentiere nicht die Grundstimmung im Haus. Diese Zeit erfordere im ganzen Land eine besondere Anpassungsbereitschaft und Flexibilität.

Durch die Corona-Pandemie werden Missstände in der Pflege offenbar, die über Jahrzehnte gewachsen sind. Uwe Janssens, Past Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und­ Notfallmedizin, warnte schon im Oktober vor dem Kollaps und forderte, sofort den ­Regelbetrieb herunterzufahren. Kaum einer hörte ihm zu. Denn die Krankenhäuser müssen Gewinne erwirtschaften. Auch in einer Pandemie. Ihnen fehlen Milliarden Euro Finanzmittel der Länder, die für die Anschaffung neuer Geräte oder Bau­maß­nahmen nötig wären. In ihrer Not finanzieren sie sich über Erlöse aus der ­Patientenbehandlung, die eigentlich nicht dafür gedacht sind. Konzerne müssen ­zusätzlich die Profit­erwartungen ihrer Eigentümer und Aktionäre bedienen.

Der ökonomische Druck ist immens

Pflegestellen zu streichen war finanziell äußerst attraktiv. Bernhard Ziegler, Direktor des Klinikums Itzehoe, sagt selbst­kritisch: "Dass es der Pflege so schlecht geht, ist im Wesentlichen den Krankenhausgeschäftsführern geschuldet, also Menschen meiner Berufsgruppe. Die nehmen sich am ehesten die schwache Pflege vor und sparen die kaputt." 50.000 Stellen wurden in den vergangenen 25 Jahren wegrationalisiert.

Jetzt, in der Krise, wird das vor allem auf den Intensivstationen offenbar. Dort klaffte schon vor Corona-Zeiten eine Personallücke von bis zu 4700 Vollzeitkräften. Seit Langem behelfen sich Krankenhäuser in der Not, indem sie Betten sperren und sich von der Notfallversorgung abmelden. Im Frühjahr rüsteten sie dann angesichts steigender Fallzahlen binnen kürzester Zeit auf, von 28.000 auf rund 35.000 Intensivbetten. Doch wer bedient all die komplizierten Geräte, Herz-Lungen-Maschinen, ECMO- und Dialysegeräte? Wer hat die Menschen im Blick, deren Zustand jederzeit lebensgefährlich entgleisen kann? Gebraucht werden hoch spezialisierte Pflegefachkräfte. Nun versuchen manche Kliniken, Schwestern und Pfleger von anderen Stationen in Wochenkursen fit zu machen.

"So schnell lernt man unseren Job nicht", sagt die Intensivkrankenschwester und Buchautorin Franziska Böhler ("I’m a Nurse", Heyne 2020). Was die Situation noch verschlimmert: Viele denken darüber nach, zu gehen. Böhler, der 230.000 Menschen auf Instagram folgen, weiß es von den Pflegenden, die ihr täglich schreiben: "Der neueste Trend ist, sich beim Gesundheitsamt zu bewerben", sagt sie. Sie selbst ist schon weg. Heute arbeitet sie in der Anästhesie. Der ständige Wechsel zwischen Früh-, Spät- und Nachtschicht, die vielen Wochenenden, das alles wurde der jungen Mutter zu viel. Zudem konnte sie ihren ethischen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden. "An schlimmen Tagen bin ich mein eigener Verräter", schreibt sie in ihrem Buch. Trotzdem vermisst Böhler die Intensivmedizin, die sie intellektuell maximal forderte, sie vermisst den Thrill, das Unberechenbare, das Glücksgefühl am Abend, wenn ein Patient gebessert verlegt werden konnte. "Es ist der schönste Beruf, den ich mir vorstellen kann", sagt sie. Bei der ersten Pandemiewelle im Frühjahr half sie noch auf der Intensivstation aus – das wird sie nicht noch mal tun. "Ich will kein zweites Mal debattieren, ob ich jetzt einen Bonus bekomme oder ein freies Mittagessen."

Die Posse um die Corona-Prämie

Zunächst wurde allen Pflegekräften eine "Corona-Prämie" versprochen, am Ende erhielten nur die Altenpflegekräfte bis zu 1500 Euro. Weil die Not der Kranken­pflegekräfte weniger groß sei, schließlich verdienten sie deutlich mehr. Nach Protesten stellte das Bundesgesundheitsministerium noch einmal ein Zehntel der Gesamtsumme zusätzlich für Kranken­pflegekräfte zur Verfügung, die Verteilung ist an komplizierte Bedingungen geknüpft. Viele gingen leer aus – auch die OP-Schwester Wibke Jung und ihre Kolleginnen am St.Elisabeth Hospital in Gütersloh. Denn der Staat honoriert Aufopferung und Mehrarbeit nur für den Zeitraum Januar bis September. "Das ist so unverschämt", erbost sich Jung: "Natürlich ist das eine Ausnahmesituation, und wir machen gerne alles möglich. Aber wir wollen auch, dass das wertgeschätzt wird." Immerhin: Nach zähen Verhandlungen spendiert der Caritas-Verband allen Beschäftigten eine Trost-Prämie aus eigenen Mitteln. 300 bis 600 Euro. Das schale Gefühl bleibt. Ein Pflegebonus, ohne Wenn und Aber, wäre aus Jungs Sicht eine symbolische Anerkennung gewesen. Stattdessen wurde würdelos gefeilscht in einer Zeit, in der woanders Unsummen verschleudert werden – auch im Krankenhausbereich.

"Gutes Herz, ruhige Hand"

"Systemrelevant" hin oder her, viel kosten dürfen Pflegekräfte nicht. Die Geringschätzung des Berufs hat eine lange Tradition. Als im Jahr 1832 die Krankenpflegeschule an der Charité eröffnet wurde, suchte man Bewerber, die lesen konnten, damit sie die Medikamente für die äußere und ­innere Anwendung nicht verwechselten. Mehr als 160 Jahre später noch glaubte der damalige Sozialminister Norbert Blüm, alles, was man für den Pflegeberuf brauche, sei "ein gutes Herz und eine ruhige Hand". Das war in den Neunzigern, als sich in ­vielen Krankenhäusern noch Ordensschwestern für Gotteslohn aufopferten. Debatten um eine angemessene Bezahlung für weltliche Pflegekräfte erübrigten sich. Und schon damals war das Personal knapp. Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, sagt: "Aber die Patienten waren jünger und gesünder als heute." Auch der Dokumentationsaufwand, der heute täglich viele Arbeitsstunden frisst, war geringer, es gab weniger technische Gerätschaften, deren Bedienung mühsam erlernt werden musste. Der medizinische Fortschritt hat die Pflege zu einer hochkomplexen Wissenschaft gemacht, die an Hochschulen ­gelehrt und erforscht wird. Trotzdem ­wurden immer mehr Stellen gestrichen.

Mehr Fälle, weniger Pflegekräfte

Besonders stark war der Aderlass in den frühen 2000er Jahren, als das Abrechnungssystem nach Fallpauschalen eingeführt wurde. In ihm werden Diagnosen nach der Faustregel vergütet: je höher der Aufwand, desto mehr Geld. Herzkatheteruntersuchungen oder Operationen an Rücken und Gelenken wurden finanziell attraktiv – hohe Pauschale, kurze Liegedauer. Die toxische Mischung aus ökonomischen Fehlanreizen und Gewinnerwartungen führte dazu, dass heute in Deutschland mehr Patienten im Krankenhaus behandelt werden als kaum irgendwo sonst auf der Welt. Das macht sie weder gesünder, noch leben sie länger. Sie erleiden nur mehr Behandlungen, weil diese Geld bringen. Und weniger Krankenpflegekräfte als früher müssen diese vielen Patienten versorgen, die alle deutlich kürzer bleiben. Entlassung, Aufnahme, Entlassung, Aufnahme, immer neue Patienten, neue Krankheiten, neue Risiken, und jeder Arbeitsschritt muss aufgeschrieben werden. Der Krankenpfleger Lars B., der auf der Schlaganfall-Station (Stroke Unit) an einer großen Uniklinik arbeitet, erlebt täglich die Auswirkungen der Gewinnmaximierung. "Im Pflegejargon gibt es den Spruch: Kein Bett darf kalt werden", sagt er. Da die Stroke-Units sehr rentabel seien, nehme man an ruhigen Tagen auch Patienten auf, die mit an ­Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Schlaganfall hätten. "Hauptsache, alle Betten sind voll belegt", so B.

So erklärt sich ein großes Zahlenparadox: Auf die Einwohner gerechnet, gibt es in Deutschland deutlich mehr Pflegekräfte als im EU-Durchschnitt. Nicht aber auf 1000 Krankenhausfälle gerechnet – da ist Deutschland Schlusslicht. Der Pflegekräftemangel ist also teilweise künstlich erzeugt. "Wir haben nicht zu wenig Pflegekräfte, wir müssten sie nur anders verteilen", sagt deshalb Christel Bienstein. "Ein Drittel aller Krankenhäuser hat weniger als 100 Betten. Die brauchen alle Pflegepersonal, aber längst nicht jedes davon wird gebraucht."

Die Machtlosigkeit Jens Spahns

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat die Missstände längst erkannt. Krankenhäuser würden oft mit der Feuerwehr oder Polizei verglichen, die ja auch keine Erlöse erwirtschaften müssten, sagte er auf dem Deutschen Pflegetag im November: "Aber wir haben ja auch nicht zwei Polizei- oder zwei Feuerwehrstationen direkt nebeneinander. Wir haben bei Krankenhäusern im Moment eine Struktur, die nicht bedarfsgerecht ist." So sehr er auch den Punkt trifft, so wenig kann Spahn tun: Wo Krankenhäuser stehen und wo nicht, entscheiden die Länder. Messerscharf erkannte der Minister auch die schädlichen Auswirkungen des Fallpauschalensystems – und erfand das "Pflegebudget". Also eine eigene Pauschale für das Pflegepersonal, die unabhängig davon gezahlt wird, wie ­lukrativ Patientenbehandlungen sind.

Ob diese Maßnahme aber ihre Wirkung entfaltet, wird sich noch zeigen. Der Erfindungsreichtum der Träger ist immens. Kaum war das Gesetz in Kraft, verkündete Stephan Sturm, CEO der Fresenius-Gruppe, in einem Conference Call mit Investoren stolz, man habe "Gegenmaßnahmen" ersonnen. Zu Fresenius gehört der Krankenhauskonzern Helios. Man werde, so Sturm, Aufgaben an die Pflege delegieren, für die bislang Servicekräfte zuständig ­waren – auf Deutsch: Essen austeilen und Bettpfannen bringen, Tätigkeiten, für die keine Qualifikationen erforderlich sind. Denn Servicekräfte schmälern weiterhin den Gewinn aus den Fallpauschalen, nicht aber die Pflegekräfte. Auch den Ärzten könnten die Pflegekräfte Dokumentationsaufgaben abnehmen, so Sturm. "Die Ärzte werden dafür dann künftig mehr Zeit für weitere Behandlungen haben, und so hoffen wir, dass die Zahl der stationären Fälle gesteigert werden kann." Im Klartext: Fallzahlen weiter rauf, egal, wie sehr das die Pflegekräfte belastet. Dass es an vielen Kliniken so läuft, da ist sich Grit Genster sicher, Bereichsleiterin Gesundheit bei Verdi. "Aber wir hören das nicht nur von Helios, sondern auch von Häusern in öffentlich-rechtlicher oder freigemeinnütziger Trägerschaft." Auf dem Pflegetag darauf angesprochen, entgegnete Jens Spahn etwas hilflos: "Da hilft am besten (…), sich mit 30, 40, 50 anderen Kollegen auf Stationen zusammenzutun und zu sagen: Wir gehen." Eine Abstimmung mit den Füßen also. Doch wohin gehen? Gibt es irgendwo ein Krankenhaus, an dem die Pflege in Würde möglich ist? Wo es bessere Arbeitsbedingungen gibt? Mehr Geld? Mehr ­Anerkennung? Die Möglichkeit, erlerntes Wissen anzuwenden und zu erweitern? Karrierechancen? Der stern fragte Wissenschaftler, Ökonomen, Berufsverbände, die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Immer wieder fiel ein Name: die Uniklinik Freiburg.

Doktor Schwester

Der 72-jährige Emil H. erlebte Anfang ­November, was bestmögliche Pflege zu leisten imstande ist – auch außerhalb des Krankenhauses. An einem Novembertag erwachte er zu Hause mit Schnupfen, Gliederschmerzen und Fieber. Er tippte die Symptome in eine Handy-App ein. An der Uniklinik Freiburg scannte die Pflegekraft Lynn Leppla gerade die Morgenwerte ihrer 20 ambulanten Krebspatienten, sah die Daten sofort und rief H. an. Er spielte seine Symptome herunter, sie aber beschwor ihn, sich in die nächstliegende Notaufnahme bringen zu lassen. "Ein bakterieller Infekt kann lebensgefährlich für Sie sein", sagte sie. H. hatte sich Anfang Juli einer Stammzelltransplantation unterzogen, sein Immunsystem war stark geschwächt. Er folgte Lepplas Rat. Im Krankenhaus bekam er Antibiotika, die schnell wirkten. Danach rief er Leppla an: "Vielleicht haben Sie mir das Leben gerettet. Sie sind jetzt mein Schutzengel", sagte er. Leppla kennt ihn seit seinem ersten Tag im Krankenhaus, sie weiß, dass er mit seiner Frau in einem Einfamilienhaus lebt, Gartenarbeit liebt. Sie zeigte ihm, wie er vor jeder Tabletteneinnahme seine Hände desinfizieren sollte, sie telefonierten, als er seinen Enkel sehen wollte, trotz Corona.

Lynn Leppla
Lynn Leppla ist Pflegeexpertin am Universitätsklinikum Freiburg. Dabei übernimmt sie auch Aufgaben, die über die eigentliche Pflege hinausgehen
© Patrick Junker

Lynn Leppla ist eine Pflegepionierin. Die App hat sie zusammen mit zwei Hochschulen entwickelt. Sie forscht, übernimmt auf Delegation hin ärztliche Aufgaben wie Knochenmarkpunktionen, verabreicht Chemotherapien. In ihrer Signatur steht das Kürzel "APN", es steht für "Advanced Practice Nurse" – ein weltweit etabliertes Konzept, bei dem Pflegekräfte akademisch ausgebildet werden, ihre Kompetenzen vertiefen und ihre Einsatzmöglichkeiten erweitern. Leppla würde nicht mehr anders arbeiten wollen: "Wir leben hier auf einer Insel der Glücklichen", sagt sie.

10 bis 20 Prozent der Pflegefachkräfte sollten ein Studium absolviert haben, fordert seit Langem der Wissenschaftsrat. So würde Deutschland Anschluss gewinnen an Länder wie Schweden, die Niederlande oder Kanada, wo ein hoher Anteil oder sogar alle Pflegekräfte studiert haben. Führende Ärzteverbände blockieren, sie sehen ihre Kompetenzen bedroht. "Natürlich befürchten sie auch die Umverteilung finanzieller Vergütung", sagt Bernadette Klapper, Leiterin des Bereichs Gesundheit bei der Robert Bosch Stiftung. Doch Pflegerinnen mit Uniabschluss würden künftig nicht nur im Krankenhaus gebraucht, sondern auch auf dem Land. Denn für die steigende Zahl der Alten gibt es schon heute nicht mehr genug Hausärzte. "Wir brauchen die Gemeindeschwester wieder, ähnlich wie es sie früher in der DDR gab", so Klapper. Ihr modernes Pendant hat studiert und ist mit ärztlichen Kompetenzen ausgestattet, darf eigenständig Wunden versorgen und sogar Rezepte ausstellen.

Mehr Geld, flexiblere Arbeitszeiten

Der Freiburger Pflegedirektor Helmut Schiffer kam vor sieben Jahren von der Berliner Charité in die beschauliche Stadt im Breisgau – und sah sofort die große Herausforderung: Freiburg liegt nahe an der Schweiz. Die Gefahr der Abwanderung war groß, denn die Schweiz lockt Pflegekräfte durch hohe Gehälter, weniger Stress und weniger Patienten. Für Schiffer hieß das: ­alles tun, um Nachwuchs zu gewinnen und zu binden. Dienstpläne hat er so ergänzt, dass auch alleinerziehende Mütter, die ­feste Arbeitszeiten brauchen, ihren Platz finden. Falls jemand ausfällt, muss die Stationsleitung nicht mehr herumtele­fonieren, um Ersatz zu finden, denn den gibt es schon – einer im Team hat sich die Stunden nach seinem Dienst frei gehalten, um länger dazubleiben. Dazu gibt es einen großen "Flexipool" mit Springern. Nicht zuletzt verdienen Pflegekräfte in Freiburg deutlich mehr als anderswo – nach dreijähriger Ausbildung steigen sie mit 3300 Euro brutto ein, knapp 500 Euro mehr als nach anderen Tarifverträgen.

Die Uniklinik Freiburg
Auf dem Weg zum "Magnetkrankenhaus": Der Pflegebereich der Uniklinik gilt als Vorzeigeprojekt
© Patrick Junker

Auch für Karrieremöglichkeiten sorgt Schiffer. Auf 15 Stationen hat er ein neues Führungskonzept installiert – an die Stelle der klassischen Stationsleitung rückt ein Triumvirat: Die Pflegerische Leitung kümmert sich nur noch um die Personalführung. Eine "Pflegefachliche Leitung" bringt wissenschaftliche Erkenntnisse ans Krankenbett, eine "Pflegepädagogische Leitung" koordiniert die Aus- und Fortbildung. Während der Corona-Pandemie hat sich das Konzept auf der zeitweise voll belegten internistischen Intensivstation bewährt. Während die anderen sich ganz auf die anspruchsvolle Stationsarbeit konzentrierten, dachte die pflegefachliche Leiterin Lyn von Zepelin nebenher darüber nach, wie die Arbeitsabläufe bei der aufwendigen Pflege von Corona-Patienten verbessert werden können. Sie erstellte Videos und Tutorials und führte ein Tablet ein, damit Patienten, die nicht sprechen können, ihre Bedürfnisse mitteilen oder per Videotelefonie ihre Angehörigen sehen können. "Eine jüngere Frau konnte Worte so gut mit ihren Lippen formen, dass ihr Mann sie verstanden hat. Es war ergreifend für uns, zu sehen, wie glücklich die beiden waren, dass sie einander wenigstens auf dem Bildschirm wiederhatten." Derzeit wird ein Filmprojektor ausprobiert, der die gestressten, bewusstseinsgetrübten Patienten auf Spaziergänge in Herbstwälder und Winterlandschaften entführt. Im Forschungsprojekt "Stille ­Intensivstation" untersuchen Pflegekräfte, wie die Ohren der Patienten optimal von den hektischen Geräuschen und dem Piepen der Monitore abgeschottet werden können. Silvia Kopp, Pflegerische Leitung einer Intensivstation, ist begeistert: "Früher hätte ich alle Aufgaben versucht zu übernehmen, Personalverantwortung, Dienstpläne, Abläufe optimieren, die ­Wissenschaft, Azubis anleiten, selbst anpacken. Gerade jetzt in der Pandemie wäre da vieles nicht durchführbar."

Die Vision: Magnetkrankenhaus werden

Langfristig will Schiffer die Uniklinik zum "Magnetkrankenhaus" machen. Das Konzept kommt aus den USA. Als dort in den 80er Jahren Pflegenotstand herrschte, stellten Wissenschaftler fest: Es gab Kliniken, die leichter an Personal kamen. Die Pflegekräfte waren dort zufriedener, besser in Entscheidungsprozesse eingebunden. Patienten profitierten davon, es gab weniger Komplikationen und Todesfälle.

Die Forschungen in den USA mündeten in einem Magnetkrankenhaus-Zertifikat. Als eins von 20 anderen deutschen Krankenhäusern nimmt die Uniklinik Freiburg an einer europaweiten Studie teil, um nach und nach die anspruchsvollen Voraussetzungen zu erfüllen. "Die Kliniken werden gecoacht durch amerikanische Partner- Krankenhäuser", sagt Studienleiter Reinhard Busse von der TU Berlin. Sie sollen einen langen Verwandlungsprozess durchlaufen, um bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte zu schaffen.

Die Kluft zwischen Vision und Wirklichkeit ist groß. Das Drama des Pflege­notstands ist, dass er sich selbst verstärkt – weil viele, die noch da sind, wegen un­zumutbarer Arbeitsbedingungen an Kündigung denken. Die Gehälter liegen teilweise weit unter dem, was angesichts der Verant­wortung für Leben und Gesundheit angemessen wäre. Die Arbeitszeitmodelle sind vielerorts immer noch stein­zeitlich. Die wenigen, die Pflege studiert haben, fliehen zu oft vom Krankenbett, ­gehen ins Management. Doch es gibt Lichtblicke: 71.300 Menschen haben 2019 eine Pflegeausbildung begonnen, Tendenz steigend. Ein Etappensieg. Der Beruf ist wieder angesagt. Corona sei Dank. Pflege ist krisensicherer als Berufe im Eventmanagement, den ­Medien, dem Tourismus, der Modebranche. Doch diejenigen, die jetzt antreten für unsere Zukunft in ­Würde, sie brauchen gute Perspektiven und Entwicklungs­möglichkeiten, damit nicht – wie in den vergangenen Jahren – fast 30 Prozent ­während der Ausbildung abspringt. Das müssen die Politiker und die Betreiber von Krankenhäusern, Heimen und Pflegediensten schaffen. Jetzt. Dafür stehen die Forderungen der Pflege-Petition.

Hier können Sie die Pflege-Petition online mitzeichnen.

Erschienen in stern 2/2021

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