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Titelthema

Geld für volle Betten, Geld für leere Betten

Titelthema - Geld für volle Betten, Geld für leere Betten
© Illustration: Daniel Stolle

Während der Krise steht das Gesundheitssystem im Mittelpunkt. Es muss sich einiges ändern, um für Normal- und Krisenzeiten besser gerüstet zu sein.

Reinhard Busse01.05.2020

Verfolgt man die Debatte um das deutsche Gesundheitssystem in Covid-19-Zeiten, könnte der Eindruck entstehen, um es zu verbessern, bräuchten wir nur mehr – mehr Betten, insbesondere Intensivbetten, mehr Personal, mehr Schutzausrüstung und mehr Geld. Dabei haben wir mehr Betten pro Einwohner als jedes andere EU-Land, beim Pflegepersonal pro Einwohner liegen nur Norwegen und die Schweiz vor uns, und gemessen am BIP gibt kein EU-Land mehr aus als wir. Und woher kommt der Ruf nach staatlich bereitgestellter Schutzausrüstung von freiberuflich tätigen Ärzten und „eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern“ (so §1 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes), die ansonsten über zu viel Regulierung lamentieren? Das gehört hinterfragt, auch um für die Zukunft besser gewappnet zu sein.

Inkompetenz und Intransparenz

Die Forderung nach „mehr“ verwundert angesichts der Debatte, die vor Covid-19 gerade in Politik, Medien und Öffentlichkeit an Fahrt gewonnen hatte, nämlich um zu viele Krankenhäuser, zu viele Betten, zu viele Operationen – und vor allem dadurch bedingte suboptimale Qualität. Dabei war klargeworden, dass es trotz Sozialgesetzbuch, Krankenhausplanung und unzähligen Reformgesetzen nicht zu viel, sondern zu wenig Regulierung gab, wodurch Krankenhäuser all die Leistungen erbringen durften (und dürfen), die sie möchten – und nicht nur die, die sie entsprechend ihrer strukturellen, personellen und technischen Voraussetzungen adäquat behandeln können. So kam (und kommt) es, dass über 1100 von ihnen Patienten mit Herzinfarkt behandeln, obwohl nur die Hälfte von ihnen über einen Herzkatheter verfügt. Ähnlich beim Schlaganfall, den viele Krankenhäuser ohne „Stroke Unit“ trotz klarer Evidenzlage behandeln – oder die über 300 Kliniken, die jährlich nur durchschnittlich drei (!) hochkomplexe Operationen bei Bauchspeicheldrüsenkrebs durchführen, wobei doppelt so viele Patienten daran versterben wie in Häusern mit über 20 Fällen. Und immer noch gibt es viele Kreißsäle ohne angeschlossene Neonatologie, sodass Neugeborene bei Komplikationen unnötigen Risiken ausgesetzt sind. Verbunden ist dies mit großer Intransparenz – das heißt, ob ein Krankenhaus über Herzkatheter oder Stroke Unit verfügt und wie viele Patienten an der Bauchspeicheldrüse operiert werden, ist zumeist nicht offensichtlich. Auch wie viele Betten gerade frei sind, war (beziehungsweise ist) selbst für den Rettungsdienst ein Buch mit sieben Siegeln. Es gilt als Geschäftsgeheimnis, da die Politik Krankenhäuser als im Wettbewerb miteinander befindliche Institutionen betrachtet hat, die nicht nur selbst bestimmen können, welche Leistungen sie erbringen, sondern auch, wie viele Schutzmasken sie auf Vorrat kaufen. Besonders augenfällig war dies, wenn das Kartellamt Fusionen zwischen Krankenhäusern untersagt hat, die dem Wohle des Patienten durch bessere Abstimmung, wer was macht, gedient hätten, ihm aber weniger Wahl gelassen hätten.

Zweifelhafte Klinikaufenthalte

Geld für die Krankenhäuser gab es vor der Krise nur für gefüllte Betten, und zwar in Form sogenannter Fallpauschalen, das heißt eines bestimmten, festen Geldbetrags pro Patientengruppe unabhängig von den tatsächlich beim individuellen Patienten entstehenden Aufwand. Daraus konnte der Eindruck vom übermäßigen Spardruck entstehen, wobei von diesen Kritikern übersehen wurde, dass die Krankenhäuser Patienten schneller behandelten und die Betten mit weiteren Patienten füllten, wodurch wir inzwischen über 50 Prozent mehr stationäre Patienten als unsere Nachbarländer haben und gemessen am BIP immer mehr, und nicht weniger, für unsere Krankenhäuser ausgeben. Fallpauschalen gelten für viele als Sinnbild der negativ konnotierten „Ökonomisierung“, das heißt des Primats wirtschaftlicher vor medizinischen Erwägungen. Dagegen wurden (und werden) die vielen kleineren Krankenhäuser häufig positiv konnotiert, weil sie vermeintlich auf dem Land die Grundversorgung sicherstellen. Übersehen wurde (und wird) dabei, dass viele von ihnen sich in Städten befinden und genau diese dazu beitragen, dass Patienten mit Diagnosen im Bett liegen, bei denen eine stationäre Behandlungsnotwendigkeit zweifelhaft ist. Hierzu zählen etwa Diabetes, Bluthochdruck, Herzinsuffizienz oder Rückenschmerzen.

Die Lehren aus der Krise

Die vielen Patienten erklären auch unseren Pflegepersonalmangel – er ist bei den vielen Betten und Patienten vor allem ein relativer (aber durchaus relevanter). Gerade hatte der Gesetzgeber reagiert und Höchstzahlen von Patienten pro Pflegekraft eingeführt (etwa 2,5 Patienten auf Intensivstationen) – eine Vorgabe, die wegen Covid-19 ausgesetzt wurde.

Was hat die Krise verändert? Nicht nur sind bedauerlicherweise die verpflichtenden Mindestgrenzen bei der Pflege ausgesetzt, sondern auch jahrzehntealte Grundprinzipien werden angezweifelt und über Bord geworfen: Krankenhäuser erhalten Geld dafür, dass sie keine Patienten behandeln, um Kapazitäten für Covid-19-Patienten freizuhalten. Der Staat verteilt Ausrüstung und Geräte, vor allem an die Krankenhäuser und Praxen, die nicht selbst vorgesorgt hatten. Intensivmediziner (nicht die Krankenhäuser oder Politik) haben eine Datenbank entwickelt, in der ihre Kollegen in anderen Häusern einsehen können, wer noch wie viele Intensivbetten mit welcher Ausstattung frei hat. In der Krise wurde so klar, dass Kooperation und Koordination nicht nur erlaubt sein sollten, sondern notwendig sind.

Damit zeichnet sich ab, was nach der Krise anzugehen ist: Die vorher bestehenden Schwächen müssen angegangen werden und dabei Lehren aus der jetzigen Situation eingebaut werden. Quasi als unterste Stufe muss Transparenz, wer was macht und wo noch Kapazitäten verfügbar sind, selbstverständlich werden. Aber Transparenz allein genügt nicht – es muss klar(er) werden, wer für was zuständig, ist und nicht jedes Krankenhaus darf alles machen. Dafür muss Krankenhausversorgung von der Bevölkerung her, nicht vom einzelnen Krankenhaus gedacht werden. Wir haben pro Tag einen Herzinfarkt pro 160.000 Einwohner (500 Fälle am Tag in Deutschland) und pro Woche eine neu an Brustkrebs erkrankte Frau pro 60.000 Einwohner (knapp 1400 in Deutschland). Ein Herzkatheter und Kardiologen rund um die Uhr brauchen eine bestimmte Anzahl an Patienten – genau wie ein Brustkrebszentrum (kurz gerechnet: wenn ein solches Zentrum 150 Fälle pro Jahr versorgen soll, braucht es ein Einzugsgebiet von 180.000 Einwohnern). Wo dies in schwach besiedelten Gegenden zu unzumutbaren Fahrzeiten zum Zentrum führt, sollte zum Beispiel für die Nachbetreuung auf Telemedizin zurückgegriffen werden – auch eine Lehre aus der Krise.

Konsequente Qualitätskontrollen

Drittens muss es technische und personelle Vorgaben endlich wirklich flächendeckend geben – aber sie müssten nicht nur verpflichtend vorgegeben sein, sondern jeder Bürger muss auch erfahren, ob sie eingehalten werden. Aber auch weitergehende Qualitätsindikatoren zur Prozess- und Ergebnisqualität (zum Beispiel: Wie viele Patienten mit einem künstlichen Hüftgelenk können nach drei Monaten wieder schmerzfrei laufen?) sollten gesammelt und öffentlich gemacht werden – und zwar nicht, weil sich Patienten das beste Krankenhaus aussuchen sollen (wie gesagt, bevölkerungsorientierte Versorgung wird ja normalerweise heißen, dass es in einem Landkreis genau einen designierten Versorger für eine Indikation gibt), sondern um Krankenhäuser zu einer kontinuierlichen Qualitätsverbesserung zu animieren. Die PISA-Studie machen wir ja auch nicht deswegen, damit die Eltern ihre Schule wählen, sondern um unsere Schulen insgesamt zu verbessern.

Genügend Vorräte vorhalten

Aber es wird noch weitergehende Änderungen geben müssen: Damit Krankenhäuser überhaupt als eigenverantwortlich wirtschaftend erhalten bleiben können (und nicht Teil eines staatlichen Systems werden, das dann in der nächsten Krise automatisch für die Verteilung von EKG- oder Dialysegeräte zuständig ist), müssen nicht nur die Aufgaben verteilt werden, sondern auch regulatorische Vorgaben erhöht werden, indem zum Beispiel genügend Vorräte vorgehalten werden müssen, um Patienten vier Wochen lang ohne Nachschub an Material betreuen zu können. Zugleich müssten Fusionskontrollen neu ausgerichtet werden; im Mittelpunkt sollte die Frage „Verbessert sich die Versorgungsqualität?“ stehen, nicht „Verringert sich die Wahl?“.

Auch unser Krankenhausvergütungssystem gehört auf den Prüfstand: So sollte kein Geld erhalten, wer für die Behandlung eines Patienten gar nicht qualifiziert ist – also etwa ein Krankenhaus ohne Stroke Unit für einen Schlaganfallpatienten. Umgekehrt muss gelten: Das Krankenhaus, das für die Schlaganfallbetreuung für ein Einzugsgebiet von 200.000 Einwohnern zuständig ist, muss diese Schlaganfalleinheit auch dann betreiben können, wenn statt den vier Betten mal nur zwei belegt sind. Eine Feuerwehr, die nicht zum Brand ausrückte, weil es nicht brannte, wurde trotzdem finanziert. Ein Krankenhausbett, das nicht gefüllt war, war bis zur Krise nicht finanziert – mit den bekannten Fehlanreizen, die es zu brechen gilt, also der Nutzung von Überkapazitäten, die nur für echte Krisenzeiten bereitgehalten werden sollten.

Reinhard Busse

Prof. Dr. Reinhard Busse ist Professor für Management im Gesundheitswesen an der Fakultät Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin. Er ist gleichzeitig Co-Director des European Observatory on Health Systems and Policies und Fakultätsmitglied der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Gesundheitsökonomie.

 

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