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Kontaktverfolgung bricht zusammen: Gesundheitsämter verlieren Kontrolle: Im Kampf gegen Corona brauchen wir neue Virusjäger
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Coronavirus - Bundeswehr leistet Amtshilfe
Julian Stratenschulte/dpa Weil die Fallzahlen in Deutschland steigen und in vielen Gesundheitsämtern Personal fehlt, sind inzwischen mehr als 1500 Bundeswehrsoldaten als sogenannte "Contact Tracer" im Einsatz.
  • FOCUS-online-Redakteur
Dienstag, 20.10.2020, 14:16

Sie sind Deutschlands schärfstes Schwert im Kampf gegen Corona – doch jetzt kommen sie an ihre Grenzen: Viele Gesundheitsämter können angesichts dramatisch steigender Corona-Zahlen das Infektionsgeschehen nicht mehr nachvollziehen. Jetzt sollen Soldaten, Studenten, Rentner und Arbeitslose als Virus-Detektive helfen. Den Kollaps wirklich abwenden, kann am Ende aber nur jemand ganz anderes.

Knapp 400 Gesundheitsämter gibt es in Deutschland. Ihre Mitarbeiter haben in diesen Tagen den wohl anstrengendsten und wichtigsten Job im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Doch die Zahl nachweislich und potentiell Infizierter explodiert die Aktenberge wachsen, viele Mitarbeiter arbeiten bis tief in die Nacht – und schaffen es in vielen Fällen trotzdem nicht mehr, die Infektionsketten ihrer „Klienten“ zurückzuverfolgen.

Covid-19 und die Gesundheitsämter: Die Mehrzahl der Infektionen kann nicht mehr zurückverfolgt werden

Das hat massive Auswirkungen auf den Verlauf der Pandemie in Deutschland. Das Robert-Koch-Institut (RKI) erfahre von den Gesundheitsämtern nur noch in weniger als 30 Prozent der Infektionsfälle den Ursprung einer Ansteckung, sagte ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums. Auch die Bundesländer tappen zunehmend im Dunkeln, wenn es darum geht, den Beginn einer Infektionskette zu ermitteln, wie die FAZ berichtet.

Demnach konnte etwa in Hessen in der vergangenen Woche nur bei 38,8 Prozent aller aktuell Infizierten das Ausbuchsgeschehen zurückverfolgt werden. In Bayern blieben zuletzt sogar in 80 Prozent der Fälle die Hintergründe der Ansteckung unbekannt. Das Coronavirus - es hat damit quasi freies Spiel.

Gesundheitsämter: In Deutschland fehlen mehr als 10.000 Mitarbeiter für die Virus-Jagd

Viele deutsche Gesundheitsämter verlieren gerade die Kontrolle – auch weil ihnen massiv Personal fehlt. Zwar hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn angekündigt, die Länder bis Ende 2022 mit mindestens 5000 unbefristeten Vollzeitstellen im Öffentlichen Gesundheitsdienst zu unterstützen. Doch wirklich viel davon scheint bislang nicht angekommen zu sein.

Allein in Nordrhein-Westfalen bräuchte man momentan landesweit rund 4500 mehr Mitarbeiter in den Ämtern, hat das NRW-Gesundheitsministerium berechnet. Bundesweit rechnet Kanzleramtschef Helge Braun sogar mit einem zusätzlichen Bedarf von weit mehr als 10.000 Personen.

Öffentlicher Gesundheitsdienst als "Pandemie-Truppe im Wartezustand" - das rächt sich jetzt

Deutschland habe seinen Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) in den vergangenen Jahren personell und technologisch völlig vernachlässigt, analysiert der Berliner Gesundheitsökonom Reinhard Busse im Gespräch mit FOCUS Online. "Anstatt dem ÖGD wirklich neue Aufgaben zu überlassen, hat man ihn als Pandemie-Truppe betrachtet, die (hoffentlich) zumeist im Wartezustand ist. Kein Wunder also, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst auf der Strecke geblieben ist.“

Um die Kontaktverfolgung trotz dramatisch steigender Corona-Infektionszahlen sicherzustellen, wollen die Bundesländer die Gesundheitsämter jetzt schnell erheblich personell verstärken. Mehr als 10.000 Mitarbeiter werden gebraucht, um die Krise zu meistern. Doch woher sollen sie kommen?

Kampf gegen Pandemie: Soldaten, Studenten, Rentner und Arbeitslose als Virus-Jäger?

Für rund ein Zehntel des fehlenden Personal wurde inzwischen eine Lösung gefunden: Aktuell sind rund 1550 Soldaten im Rahmen der Amtshilfe gegen die Corona-Pandemie im Einsatz. Gut 1100 Bundeswehr-Angehörige unterstützen demnach 98 Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung von Infektionsketten. 290 Soldaten testen Reiserückkehrer auf das Coronavirus. Doch das reicht bei weitem noch nicht aus.

Das Beste aus "Perspektiven"

In ihrer Not suchen immer mehr Städte und Gemeinden nun nach unkonventionellen Lösungen für das Engpass-Dilemma in ihren Gesundheitsämtern. Die Stadt Köln zum Beispiel sucht Ärzte und Studenten aller Fachrichtungen, die das Gesundheitsamt bei der Bewältigung der Pandemie unterstützen sollen. In Berlin erwägt man, Hunderte arbeitslos gewordene Ex-Karstadt-Mitarbeiter in den Anti-Corona-Kampf der Gesundheitsämter der Hauptstadt zu stellen. Und andernorts versucht man gezielt Rentner oder Reisebüro-Mitarbeiter als sogenannte „Containment Scouts“ zu gewinnen. Doch macht das Sinn?

Der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb hält die Idee für prinzipiell sinnvoll, um die Situation in Deutschlands Gesundheitsämtern zu entspannen. Gleichwohl dürfe man die Tätigkeit als „Containment Scout“ nicht unterschätzen, gibt Roselieb zu bedenken. „Das ist nicht einfach irgendein Job im ‚Call-Center des Gesundheitsamts‘. Die Gespräche dauern oft eine Stunde und mehr und sind für beide Seiten äußerst schwierig.“

"Containment Scouts" rufen Infizierte an: Viele wollen nicht kooperieren

Den Angerufenen werde oft binnen Sekunden der Boden unter den Füßen weggerissen, sagt Roselieb. „Überspitzt formuliert gehen die Kontaktierten für zwei Wochen in ‚Einzelhaft‘.“ Zudem müsse der anrufende Scout oft sehr intime Fragen zum Privatleben und zu den Kontakten des Quarantänekandidaten stellen – „und er stößt dabei oft auf sehr wenig Kooperationsbereitschaft“.

In Frage kommen dem Krisenforscher zufolge daher nur Menschen mit einer persönlichen Eignung für den Job. „Pensionierte Lehrer und Pastoren halte ich für gut geeignet, weil sie den Umgang mit Menschen auch in schwierigen Situationen gewohnt sind.“ Andere Personen hingegen müssten in entsprechenden Schulungen erst umfangreich qualifiziert werden - weniger im Infektionsrecht als vielmehr in der interpersonellen Kommunikation.

All das kostet Zeit. Und die ist angesichts der explosionsartig steigenden Corona-Infektionszahlen momentan knapp. Eine Alternative zu zehntausenden menschlichen Virus-Detektiven gibt es bereits: Apps und digitale Systeme, mit denen sich Infektionsketten im Idealfall lückenlos nachverfolgen lassen.

Gesundheitsämter vor dem Kollaps - die einfachste Lösung hält jeder in den Händen

„Vor dem Hintergrund, dass die Pandemie kaum vor Herbst kommenden Jahres vorbei sein wird, sollten nach dem Vorbild vieler südostasiatischer Länder viel stärker auf verpflichtende Apps setzen“, fordert Krisenforscher Roselieb. Wer also beispielsweise in ein Restaurant möchte, müsse dann die personalisierte App vorzeigen oder ein Foto seines aktuellen Personalausweises machen lassen. „So könnte die Nachverfolgung deutlich beschleunigt werden“, ist Roselieb überzeugt. Die technischen Voraussetzungen für solche Tracing- und Tracking-Apps sind bereits geklärt. Die durchaus berechtigten Bedenken der Datenschützer nicht.

Einen guten Mittelweg zwischen rein menschlicher Pandemie-Bekämpfung durch Virus-Detektive und Komplettüberwachung durch Tracking könnte indes ein System bieten, das anfangs groß gefeiert wurde, dann aber rasch in Vergessenheit geraten ist: die deutsche Corona Warn-App. Trotz neuer und besserer Funktion wird sie bislang „nur“ von 16 Millionen Menschen in Deutschland aktiv genutzt. Würden mehr den digitalen Virus-Jäger nutzen, wäre auch Deutschlands Corona-Detektiven in den Gesundheitsämtern geholfen.

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Mit Material von dpa

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