Berlin (dpa) - Die Corona-Lage in Deutschland bleibt mit mehr als 9000 Neuinfektionen angespannt - und Intensivmedizinern bereitet die möglicherweise krankmachendere Variante B.1.1.7 Sorgen.

Das seit einigen Tagen zu beobachtende Plateau bei der Zahl der Intensivfälle mit Covid-19 bundesweit sei vor diesem Hintergrund "kein gutes Zeichen", sagte der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters der Fachgesellschaft Divi, Christian Karagiannidis, am Mittwoch in einer Videoschalte. Die in Großbritannien entdeckte Mutante greift nach bisherigen Auswertungen in Deutschland zunehmend um sich.

Trotz der im Vergleich zum Jahresbeginn gesunkenen Zahl an Covid-19-Patienten stehen die Zeichen auf den Intensivstationen noch nicht auf Entspannung. "Der Druck im Kessel ist immer noch hoch", sagte Karagiannidis. Die Zahl freier Intensivbetten sei trotz des Rückgangs um rund 3000 Fälle seit Januar 2021 unverändert, etwa weil Operationen nachgeholt würden. Die derzeitigen Zahlen von zwischen rund 2700 und 2800 Covid-19-Intensivpatienten seien immer noch sehr hoch, betonte der Mediziner von der Lungenklinik Köln-Merheim.

Auch von den bisherigen Corona-Impfungen bei Senioren und Pflegeheimbewohnern verspricht sich der Experte erst einmal keine unmittelbare Entlastung für die Intensivstationen: Schon in der ersten Welle sei lediglich etwa ein Viertel der Intensivpatienten über 80 Jahre alt gewesen, sagte er. Der Zeitpunkt, an dem man davon wegkommen könne, auf die Auslastung der Intensivbetten zu schauen, werde wahrscheinlich erst im Mai oder Juni erreicht.

Dass das Gesundheitssystem trotz hoher Fallzahlen in den vergangenen Monaten nicht kollabiert ist, hat auch mit Lehren aus der ersten Welle, Fortschritten beim Vermeiden schwerer Krankheitsverläufe und Management zu tun, wie Fachleute am Mittwoch ausführten.

Während in der ersten Welle noch 21 Prozent der Betroffenen in ein Krankenhaus kamen, waren es von Oktober bis Dezember lediglich noch neun Prozent, sagte Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen von der TU Berlin. Rückgänge wurden demnach in Ländern wie Spanien und Großbritannien, die bei Covid-19 anfangs noch viel stärker auf Kliniken setzten, noch ausgeprägter beobachtet.

In Deutschland hat sich Ende 2020 der Anteil der Krankenhaus-Patienten mit Covid-19, die intensivmedizinisch versorgt wurden, im Vergleich zu den ersten Pandemie-Monaten ungefähr halbiert: auf 14 Prozent im Dezember. Das geht aus einem Beitrag von einem Team um Karagiannidis im Fachblatt "The Lancet Respiratory Medicine" hervor. Die verringerten Aufnahmen seien ein Schlüsselfaktor zum Vermeiden von Engpässen gewesen, so das Fazit.

Bei den Patienten, die invasiv beatmet werden, stehen die Überlebenschancen allerdings nicht besser als vor einem Jahr, ungefähr die Hälfte von ihnen stirbt. Seien Patienten erst einmal beatmungspflichtig, haben Ärzte nicht mehr allzu viele Spielräume, wie Karagiannidis schilderte. Als wichtig gilt die optimale Behandlung zuvor: Bei der Therapie sei man "ein bisschen besser geworden", sagte Karagiannidis. Kortison etwa sei ein "Gamechanger" gewesen, auch habe man früh auf Blutverdünner gesetzt. Welche Rolle Beatmungstherapien spielten, werde noch ausgewertet. Wahrscheinlich hätten Ärzte zu Pandemiebeginn eher zu früh mit Beatmung angefangen.

Von den laut Statistischem Bundesamt rund 40.000 Covid-19-Toten im Jahr 2020 in Deutschland starb nach den Worten Busses weniger als jeder Dritte (30 Prozent) auf Intensivstationen. 45 Prozent waren demnach in sonstiger stationärer Behandlung, ein Viertel außerhalb des Krankenhauses. Karagiannidis betonte, die Zahlen zu Todesfällen außerhalb der Intensivstationen zeigten auch, dass der Patientenwille respektiert werde - je nach Alter und Vorerkrankungen sei "noch mehr Medizin" nicht sinnvoll.

Nach Divi-Prognosen sind schnelle Fortschritte beim Impfen in den kommenden Wochen entscheidend, um eine dritte Welle möglichst flach zu halten. Während sich Deutschland noch in einer Talsenke befinde, steige die Kurve der Intensivversorgung in anderen Ländern wie Belgien, Frankreich und Italien derzeit wieder an, sagte TU-Experte Busse, Tschechien sei bereits mittendrin.

Bei Prognosen für Deutschland gebe es noch einige Unbekannte, etwa zur Ausbreitung der Mutante, zu Effekten von FFP2-Masken und zur Teststrategie, sagte Andreas Schuppert von der RHTW Aachen. Auch die Folgen der nun beschlossenen Lockerungen seien noch unklar.

Nach Daten vom Mittwoch haben Gesundheitsämter in Deutschland dem Robert Koch-Institut (RKI) binnen eines Tages 9146 Neuinfektionen mit dem Coronavirus gemeldet. Zudem wurden innerhalb von 24 Stunden 300 weitere Todesfälle verzeichnet. Allerdings fehlten Angaben aus Hamburg; aus dem Bundesland wurden nach RKI-Angaben gestern keine Zahlen übermittelt. Vor genau einer Woche hatte das RKI binnen eines Tages 9019 Neuinfektionen und 418 neue Todesfälle verzeichnet.

Die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner (Sieben-Tage-Inzidenz) lag laut RKI am Mittwochmorgen bundesweit bei 65,4 - und damit niedriger als am Vortag (67,5). Vor vier Wochen, am 10. Februar, hatte die Inzidenz noch bei 68 gelegen.

Das RKI zählte seit Beginn der Pandemie 2.518.591 nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2. Die tatsächliche Gesamtzahl dürfte deutlich höher liegen, da viele Infektionen nicht erkannt werden. Die Zahl der Genesenen gab das RKI mit etwa 2.328.700 an. Die Gesamtzahl der Menschen, die an oder unter Beteiligung einer nachgewiesenen Infektion mit Sars-CoV-2 gestorben sind, stieg auf 72.489.

Der bundesweite Sieben-Tage-R-Wert lag laut RKI-Lagebericht vom Mittwochabend bei 0,96 (Vortag 0,97). Das bedeutet, dass 100 Infizierte rechnerisch 96 weitere Menschen anstecken. Der Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen vor 8 bis 16 Tagen ab. Liegt er für längere Zeit unter 1, flaut das Infektionsgeschehen ab; liegt er anhaltend darüber, steigen die Fallzahlen.

© dpa-infocom, dpa:210310-99-759149/7

RKI-Dashboard

Beitrag in "The Lancet Respiratory Medicine"

Divi-Daten