Schweizer Design für das dänische Gesundheitssystem: In der Stadt Hilleröd entsteht ein neues Spital der Basler Architekten Herzog & de Meuron. (Bild: Herzog & de Meuron)

Schweizer Design für das dänische Gesundheitssystem: In der Stadt Hilleröd entsteht ein neues Spital der Basler Architekten Herzog & de Meuron. (Bild: Herzog & de Meuron)

Sie haben das Spitalwesen radikal umgebaut: Was die Schweiz von den Dänen lernen kann

In der Schweiz provoziert jede Spitalschliessung einen Volksaufstand. Dänemark dagegen zentralisiert konsequent – und baut «Superspitäler». Das kostet Unsummen, soll sich aber bald auszahlen.

Simon Hehli, Kopenhagen
Drucken

Köge, eine verschlafene Kleinstadt südwestlich von Kopenhagen, 37 000 Einwohner. Bei der S-Bahn-Station am grauen Rand des Ortes sitzen schon am Vormittag Männer mit Bierdosen vor billigen Supermärkten und starren in die Leere. Nichts deutet darauf hin, dass nur wenige hundert Meter entfernt der Gigantismus beginnt: Bis 2023 wird auf einem kreisrunden Areal ein «Superspital» in die Höhe wachsen. Dreimal grösser als das bestehende Krankenhaus. 800 Einzelzimmer wird es geben, 38 Intensivstationen und 41 Operationssäle.

Wo heute das alte Spital von Köge steht . . .

Wo heute das alte Spital von Köge steht . . .

. . . wird in einigen Jahren das topmoderne neue Krankenhaus eröffnet. (Bilder: ZUH)

. . . wird in einigen Jahren das topmoderne neue Krankenhaus eröffnet. (Bilder: ZUH)

Wer die gesundheitspolitische Avantgarde sehen will, muss nach Dänemark reisen. Das Land steckt mitten in einem radikalen Umbau der Spitallandschaft. Nach der Jahrtausendwende hatte es ein Kosten- und Qualitätsproblem, ähnlich wie die Schweiz. In den vielen kleinen Spitälern gab es Falschbehandlungen, Ansteckungen und hohe Mortalitätsraten. Die Infrastruktur, die meist aus den 1960er und 1970er Jahren stammte, bröckelte. Dann setzte eine Mitte-rechts-Regierung zum Befreiungsschlag an und lancierte 2007 das «Superspital»-Programm. Es verändert nicht nur die Medizin, sondern den ganzen Staat.

Nur noch 5 statt 16 Regionen

Gab es einst auf der mittleren Staatsebene 16 «Ämter» – analog zu den Schweizer Kantonen –, sind es heute nur noch 5 Regionen. Und diese sind fast ausschliesslich für die Gesundheitsversorgung zuständig. Den Kern bilden die 16 neuen «Superspitäler», deren Bau 6,6 Milliarden Euro kostet. 12 werden an bisherigen Standorten errichtet wie in Köge, 4 kommen auf die grüne Wiese. Für die Stadt Hilleröd in Norddänemark haben die Basler Architekten Herzog & de Meuron ein Kleeblatt mitten in einer Gartenlandschaft entworfen.

Über die Standorte der neuen Spitäler entschied eine fünfköpfige Expertenkommission. Die Regionen mussten sich fügen. In Dänemark wäre es undenkbar, was derzeit in der Ostschweiz passiert: Die Appenzeller bauen für Dutzende Millionen Franken ein neues Spital, obwohl das St. Galler Kantonsspital eine kurze Autofahrt entfernt liegt. Die Kommission schreckte auch vor unpopulären Entscheiden nicht zurück. Die stolze einstige Hauptstadt Roskilde wird zum Entsetzen der Bevölkerung künftig nur noch ein Ambulatorium haben. Das Zentrumsspital der Region Seeland bekam Köge zugesprochen. Die Stadt ist zentraler gelegen, und das Spitalgelände bietet mehr Platz, als es im Zentrum von Roskilde gegeben hätte.

Auch die Dänen kämpfen für ihr Spital

Gleichzeitig schliessen die Dänen rigoros Spitäler. Gab es 2007 im ganzen Land 79 Krankenhäuser, werden es 2025 nur noch 53 sein, davon 21 mit Notfallstationen. Zum Vergleich: In der Schweiz waren 2017 noch 102 allgemeine Spitäler im Betrieb plus 53 Rehabilitationseinrichtungen.

Viel weniger Spitäler und eine hohe Qualität: Die Dänen zeigen, wie es geht

Viel weniger Spitäler und eine hohe Qualität: Die Dänen zeigen, wie es geht

Das Verschwinden des lokalen Akutspitals löst vielerorts Unmut aus. In einer Umfrage vor einigen Jahren äusserten sich zwei von drei Dänen besorgt über die längeren Anfahrtswege. Mehr als jeder Zehnte wird künftig über 30 Kilometer vom nächsten Spital mit Notfallversorgung (siehe Zusatz) entfernt wohnen.

Visite im Gesundheitsministerium in Kopenhagen. Der Infrastrukturexperte Martin Nyrop Holgersen sagt, es sei gelungen, die Bevölkerung zu beruhigen. «Die Leute haben eingesehen, dass das Wichtigste ist, dass sie die bestmögliche Medizin erhalten, wenn sie krank sind.» Und diese Topversorgung sollen die 16 Spitzenspitäler garantieren. Dort gibt es so viele Patienten, dass die Ärzte sich auf komplexe Eingriffe spezialisieren können. Jeder Patient bekommt ein Einzelzimmer, das erhöht die Flexibilität und senkt das Ansteckungsrisiko. Die Zahl der Mediziner und Pflegenden pro Bett ist im europäischen Vergleich hoch. Dadurch können die Kranken schneller wieder nach Hause. Helle Gaub, Vizedirektorin des Spitals von Köge, sagt: «Wir ordnen alles dem Effizienzgedanken unter.»

Dänische Patienten können viel schneller wieder nach Hause

Dänische Patienten können viel schneller wieder nach Hause

Das gilt auch für den Transport. Die längere Strecke zum nächsten Spital soll dank technischen Innovationen weniger ins Gewicht fallen. In den Krankenwagen hat das medizinische Personal Zugriff auf das elektronische Patientendossier und nimmt Tests vor. In Norddänemark gibt es bereits Videoschaltungen in die Ambulanzen, dank denen Ärzte aus der Ferne eine erste Diagnose und Triage machen.

Distanz zum Spital ist zweitrangig

In der Schweiz sind die Distanzen zum nächsten Spital immer wieder ein Thema. Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen in Berlin und externer Berater der vom Bundesrat eingesetzten Expertenkommission zur Kostendämpfung, hält dieses Kriterium jedoch für zweitrangig. «Politiker und Bürger denken, ein Patient sei in Sicherheit, wenn er die Krankenhaustür erreicht habe, doch das ist falsch», betont Busse.

Lande man im Notfall in einem schlecht ausgerüsteten Spital, werde eine Verlegung nötig, und wertvolle Zeit gehe verloren. «Da ist es besser, wenn die Ambulanz gleich von Anfang an ein paar Minuten weiter fährt wie in Dänemark.» Aus Busses Sicht ist denn auch das Spitalnetz in der Schweiz viel zu dicht. Das treibe nicht nur die Kosten in die Höhe, sondern gefährde auch die Behandlungsqualität. «In einem kleinen Spital in einer Randregion kommen Ärzte unmöglich auf die nötige Praxis, um in schwierigen Fällen adäquat reagieren zu können.»

Die Schweiz hat Bergtäler, Dänemark Inseln

Gegner von Spitalschliessungen argumentieren in der Schweiz gerne mit der Topografie des Landes. Diese sieht im flachen skandinavischen Küstenstaat zwar ganz anders aus, aber dennoch gibt es Parallelen: Was für die Schweiz die abgelegenen Gebirgstäler sind, sind für Dänemark die vielen kleinen Inseln. Dort Spitäler zu betreiben, lohnt sich nicht. Aber Helikopter sorgen dafür, dass Unfallopfer oder Herzinfarktpatienten schnell in ein Zentrumsspital kommen.

Reinhard Busse glaubt, dass Dänemark ein Vorbild für die Schweiz sein sollte. «Gibt es Überkapazitäten wie hierzulande, werden die Betten gefüllt – und das ist teuer.» Pro 200 000 Einwohnern reiche deshalb ein Krankenhaus, das rund um die Uhr Notfälle behandeln kann. Das wären nur noch 40 statt 100 Akutspitäler landesweit. Analog zu Dänemark oder auch Schweden soll die Schweiz laut Busse zudem grössere Gesundheitsregionen schaffen, die je rund 1,5 Millionen Einwohner umfassen und über ein Universitätsspital verfügen. Auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften plädiert für nur noch 5 oder 6 Versorgungsregionen.

Das grosse Vertrauen der Dänen in den Staat

Nicht ins Loblied einstimmen mag Heidi Hanselmann. Die Präsidentin der Gesundheitsdirektorenkonferenz wertet die dänische Grossreform als spannenden Ansatz, zumal dieser eine richtungsweisende Neuordnung auch der Gemeinden vorangegangen ist. Die politischen Systeme würden sich jedoch zu stark unterscheiden, als dass Dänemark als Vorbild herhalten könne. Das dänische Gesundheitssystem ist staatlich geprägt, zentral gesteuert und steuerfinanziert. «Kultur und Mentalität sind anders als bei uns», betont die St. Galler Gesundheitsdirektorin.

Tatsächlich kann der Bundesrat nicht einfach eine radikale Neuordnung der Spitallandschaft am Reissbrett entwerfen und verordnen. In der Schweiz sind die Kantone zuständig für die Gesundheitsversorgung, daraus resultiert der hiesige Flickenteppich. «Eine Vorgehensweise à la Dänemark stünde im Widerspruch zum historisch gewachsenen und stark gelebten Föderalismus in der Schweiz, ebenso zur direkten Demokratie», sagt Hanselmann. Es habe sich immer wieder gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger radikalen Umbau bei Spitälern kaum goutierten.

Ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen den beiden ist, dass für die dänischen Spitäler Wettbewerb ein Fremdwort ist. Das sei ein grosser Vorteil des Schweizer Systems, sagt Gregor Zünd, Direktor des Universitätsspitals Zürich. «Der Wettbewerb sorgt hier für hohe Qualität, weil wir dauernd optimieren müssen, um gegen unsere Konkurrenz bestehen zu können.»

Stärkere Konzentration ohne Staatsdiktat

Laut dem Mediziner kommt zwar auch die Schweiz um eine stärkere Konzentration im Spitalbereich nicht herum. Kleinere Spitäler müssten sich vermehrt in Zentren für ambulante Behandlungen umwandeln, zumal der klassische Hausarzt vielerorts verschwindet – ein Prozess, der auch in Dänemark in vollem Gang ist. Doch dafür brauche es keinen staatlichen Masterplan, betont Zünd. «Es würde reichen, wenn der Bund ein einheitliches Verständnis von Qualität definiert und gewisse Indikatoren vorgibt, etwa bei den Spitalinfektionen.»

Die Dänen geben für die Spitäler ähnlich viel aus wie die Schweizer

Die Dänen geben für die Spitäler ähnlich viel aus wie die Schweizer

Die Dänen haben sich für die etatistische Variante entschieden und glauben sich dabei auf gutem Weg. Der Plan sieht vor, dass die Milliardeninvestitionen bereits im Jahr 2040 amortisiert sind, dank jährlichen Einsparungen von rund 350 Millionen Euro. Die moderne Infrastruktur und die effizientere Medizin sollen dazu führen, dass die Patienten noch schneller wieder nach Hause können und weniger Nachbehandlungen nötig werden. Eines von vielen Puzzlestücken sind die Laborproben: Statt nach fünf Stunden bekommt der Arzt in den hochgerüsteten Spitälern künftig bereits nach 30 Minuten die Resultate von Bluttests – und kann rascher eine Behandlung beginnen.

In Köge werden bald die Bagger auffahren. Wie sie die entstehenden Patientenzimmer und Operationssäle optimal nutzen können, proben Teams von Ärzten, Pflegenden und Infrastrukturexperten bereits – mit Kartonattrappen, Virtual-Reality-Brillen und Legosteinen. Ab 2023 werden jährlich über 60 000 Patienten stationäre Behandlungen erhalten. 20 000 mehr als im Zürcher Unispital. Und das in einer Stadt so gross wie Köniz.

Nur noch mit Voranmeldung in den Notfall

hhs. Es ist ein Rückschlag für Dänemark: Im aktuellen Vergleich europäischer Gesundheitssysteme der Denkfabrik Health Consumer Powerhouse landet es nur noch auf dem vierten Platz. Die Schweiz hingegen holt erstmals die Goldmedaille, dies vor allem dank der hervorragenden Zugänglichkeit für die Patienten. Gerade hier sehen die Studienautoren einen Makel am dänischen Modell aus Konsumentensicht: Sie kritisieren, dass es für die Bevölkerung schwieriger geworden ist, in eine Notfallstation zu gelangen. Doch dies ergibt durchaus Sinn, wie auch die Erfahrungen in der Schweiz zeigen, wo die Spitäler über den Andrang von Personen mit Bagatellen klagen. In Dänemark ist seit über zehn Jahren eine telefonische Voranmeldung zwingend, sei es über den Hausarzt oder eine Hotline. Laut der Notfallmedizinerin Marie-Laure Jacobsson vom Spital in Köge funktioniert das gut. «Die Leute kennen die Regeln und rufen an, wenn sie das Gefühl haben, dass ein Notfall vorliegt. Viele können schon am Telefon beruhigt werden, bei weniger gravierenden Krankheiten oder Verletzungen bekommen sie einen Termin beim Hausarzt.» Die Gefahr, dass echte Notfälle abgewimmelt werden, ist klein: Die Hausärzte und die Mediziner der Hotline wollen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, eine Gefahr unterschätzt zu haben – und zeigen sich grosszügig bei der Überweisung an ein Spital.