Könnte die derzeit noch ruhige Lage auf den deutschen Intensivstationen kippen? Das beschleunigte Wachstum der Sars-CoV-2-Infektionen bereitet Expertinnen und Experten zwar Sorge, weil es seit September zunehmend auf ältere Generationen überspringt: "Wir müssen die Dynamik brechen", sagte Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin an diesem Montag auf einem Pressebriefing des Science Media Center Germany (SMC). Aber, da ist sich Busse zugleich sicher: "Wir müssen das nicht tun, weil das deutsche Gesundheitssystem sonst zusammenbrechen würde". Sondern, so Busses Einschätzung, um Leid, unnötige Ansteckungen und Langzeitfolgen der Infektion mit Sars-CoV-2 zu verhindern.

Zu einem ähnlichen Fazit kamen auch die beiden Intensivmediziner beim virtuellen Briefing des SMC: Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), und Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler: "Ich kenne niemanden unter meinen Kollegen, der sagt, 'Es wird eine Katastrophe werden im Herbst'". Auch wenn Panik nicht angebracht sei, warnt der Arzt doch vor Sorglosigkeit im Umgang mit dem Coronavirus. Nicht zuletzt wegen der noch nicht abschätzbaren Langzeitfolgen der Erkrankung, vor allem nach schwereren Verläufen.

Fast ein Drittel der Infizierten kämpft mit Langzeitfolgen

Was man bisher weiß zu den Folgen, die eine Infektion hinterlassen kann, fasste Janssens Medizinerkollege Clemens Wendtner aus München zusammen: 30 Prozent der Covid-19-Kranken kämpften noch Wochen und Monaten nach der Infektion mit den Folgen, bei den Patientinnen und Patienten, die auf der Intensivstation behandelt wurden, seien es 80 Prozent. "Kardinalsymptome sind Fatigue, also Erschöpfung, und Atemwegsproblematiken", sagte Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Leiter der Spezialeinheit für hochansteckende, lebensbedrohliche Infektionen an der München Klinik Schwabing.

Deutschlands Krankenhäuser seien zwar gut vorbereitet, auch wenn die Zahlen jetzt gerade stiegen, aber "es wäre schöner, wenn wir den neuerlichen Stresstest nicht provozieren würden". Wendtner warb für Eigenverantwortung der Menschen; dafür, wachsam zu sein im Blick auf die steigenden Infektionszahlen, jedoch mit einer gewissen Zuversicht, was die medizinische Versorgung angehe.

In Deutschlands Krankenhäusern befanden sich am 15. Oktober 2020 laut dem Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi-Tagesreport) zwar erst 655 Covid-19-Patientinnen und -Patienten in intensivmedizinischer Versorgung, davon wurden 329 (50 Prozent) bereits beatmet, so das SMC. 

Nötig sind nicht nur Intensivbetten, sondern auch qualifiziertes Personal

Bundesweit stehen regulär 30.000 Intensivbetten für alle Kranken zu Verfügung, plus einer Reservekapazität von rund 12.000. Intensivbetten ließen die sich zudem sehr kurzfristig frei bekommen, da die durchschnittliche Liegezeit der Nicht-Corona-Erkrankten im Durchschnitt bei drei Tagen liege, so der Berliner Gesundheitsforscher Busse.

Doch Betten allein helfen nicht: Schon jetzt klagen die Kliniken über Personalengpässe, vor allem in Hinblick auf anspruchsvolle Pflegetätigkeiten wie bei den Coivd-19-Patienten, die beatmet werden müssen. Darauf verwies Intensivmediziner Uwe Janssens beim Pressebriefing des SMC: "Den Fachpflegepersonalmangel sehen wir mit großer Sorge, auch wenn die Intensivbettenkapazitäten gut sind".

Was wäre jetzt also zu tun? Etwas genauere Pläne bei der Steuerung der Auslastung von Intensivbetten wünschen sich die drei Fachleute, sodass im Notfall überall in Deutschland klar wäre, welche Krankenhäuser Patienten an welche Kliniken in ihrer Region verlegen könnten.

Experten raten zur Grippeimpfung

Und: Es herrsche, so Clemens Wendter, eine gewisse Müdigkeit in der Bevölkerung, was die einfachen Schutzmaßnahmen gegen eine Corona-Infektion angeht: "Die sollten aber schon zur Anwendung kommen". Und es sei sehr wichtig, jetzt eine Doppelwelle aus Covid-19- und Influenza-Erkrankungen zu vermeiden. Wendtner empfiehlt daher seinen Patientinnen und Patienten eine Grippeschutzimpfung, auch im Alter von unter 60 Jahren, also über die allgemeinen Empfehlungen hinaus. 

Und, weil es immer und immer wieder gefragt wird: Was ist nun gefährlicher, Grippe oder Covid-19? Die Antwort auf diese Frage ist geklärt – und sie klingt nicht beruhigend: Da gebe es inzwischen belastbare wissenschaftliche Daten, sagt Wendtner, die Sterblichkeitsrate von Covid-19 liege im Bereich des Zwanzigfachen über der einer normalen Grippe.

Corona-Maßnahmen - Die zweite Welle Auch frühere Pandemien flammten überraschend wieder auf. Warum eine zweite Infektionswelle oft die gefährlichere war, erklärt der Medizinhistoriker Philipp Osten.