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Ist das deutsche Gesundheitssystem noch zeitgemäß?

Professor Reinhard Busse

Das deutsche Gesundheitssystem ist das älteste der Welt. Es hat Kriege, Wirtschaftskrisen und politische Systemwechsel überlebt. Ist es noch zeitgemäß? Ein Gespräch mit Professor Reinhard Busse, renommierter internationaler Gesundheitssystemforscher an der TU Berlin.

Herr Professor Busse, das deutsche Gesundheitssystem ist inzwischen 136 Jahre alt. Wie gut passt es zu unserer Zeit?

Prof. Busse: Vieles am heutigen Gesundheitssystem ist nur historisch zu erklären. Man würde anderen Ländern, die gerade dabei sind, ein bevölkerungsweites Gesundheitssystem zu entwickeln, nicht empfehlen, eine private und gesetzliche Krankenversicherung parallel aufzuziehen oder die ambulante und stationäre Versorgung voneinander abzugrenzen.

Ist unser Gesundheitssystem besonders kompliziert?

Busse: Es ist recht zersplittert. Immer wieder kam etwas Neues im Gesundheitswesen dazu – jetzt gerade die digitalen Gesundheitsanwendungen. Wir könnten die Digitalisierung dafür nutzen, die Akteure neu zu vernetzen – aber unsere deutsche Antwort ist: Wir eröffnen einen neuen Sektor „digitale Gesundheitsanwendungen“, der wieder getrennt neben den anderen Gesundheitssektoren existieren wird. Eigentlich müssen wir uns erst einmal grundsätzlich fragen: Wo wollen wir hin? Auf jeden Fall sollten uns einige wichtige Punkte dazu veranlassen, diese Frage zu stellen.

Welche sind das?

Busse: Die meisten Krankenhäuser in Westdeutschland stammen aus den 1970er-Jahren. Ein Herzinfarkt galt damals als eine akute Verletzung des Herzmuskels – und konsequenterweise verordnete man Bettruhe. Heute behandeln wir den Herzinfarkt schnell, mit viel Technik und Expertise. Die Einschätzung des Krankheitsbildes hat sich komplett gewandelt. Beim Schlaganfall ist es genauso. Aber unsere Kliniken sind 50 Jahre alt. Wir müssen uns fragen: Wie müssen sie eigentlich aussehen, um der heutigen Medizin gerecht zu werden? Und wo wollen wir in zehn Jahren stehen? Andere Länder haben sich hingesetzt und das überlegt. Wir versuchen immer wieder nur die kleinen Schritte.

Was wäre der große Wurf für unser Gesundheitssystem?

Busse: Wir brauchen eine Gesundheitspolitik, die von der Bevölkerung her denkt. Wenn ich weiß, dass es im Schnitt pro Tag 500 neue Fälle von Herzinfarkt gibt, also pro 160.000 Personen einen Patienten – dann kann ich planen. In einem typischen Landkreis mit etwa 150.000 Einwohnern stehen heute statistisch etwa drei Krankenhäuser. Alle personell zu gering ausgestattet, um sich gut zu kümmern. Jeder vernünftige Mensch käme auf die Idee, dass man lieber eine gute Klinik hat, die sich dann um Patienten mit Herzinfarkt oder auch Schlaganfall oder einem schweren Verkehrsunfall bestmöglich kümmert. Vermutlich brauchen wir sogar noch größere Einzugsgebiete, damit rund um die Uhr Fachärzte anwesend sind. Oder nehmen wir Brustkrebs: Wir haben 800 Krankenhäuser, die Frauen mit Brustkrebs behandeln. 200 davon sehen nicht mehr als sieben Patientinnen im Jahr. Da müsste eigentlich ein Warnschild an der Tür hängen.

Und wie sähe das bei der Vorsorge aus?

Busse: Auch da müssen wir auf die Bevölkerung bezogen überlegen, was wir machen können, damit wir beispielsweise nicht mehr 500 Herzinfarkte am Tag haben, sondern in fünf Jahren nur noch 450. Es geht übrigens nicht darum, Vorsorge gegen Versorgung auszuspielen. Am Ende zählt beides. Das sieht man am Beispiel von Dänemark: Das Land setzt sowohl auf Vorsorge als auch auf bessere Versorgung in zentralisierten Krankenhäusern. Noch vor zwanzig Jahren starben in Dänemark ähnlich viele Menschen an ischämischen Herzerkrankungen wie in Deutschland. Inzwischen ist die Rate deutlich niedriger.

Also ist die Kritik richtig, dass das deutsche Gesundheitssystem seine Ressourcen vor allem für Reparaturmedizin ausgibt?

Busse: Nun, das deutsche Gesundheitsministerium hat nicht nur die Aufgabe, sich um die Versorgung zu kümmern – obwohl natürlich die meisten politischen Entscheidungen, genau darauf gerichtet sind. Und es soll auch nicht nur die enge Vorsorge in Form von Präventionsprogrammen und Früherkennung initiieren: Es muss auch in Abstimmung mit anderen Ressorts „health in all policies“ betreiben. Leider haben wir in Deutschland „Public Health“, also Bevölkerungsgesundheit, noch gar nicht so im Blick.

Was würde „health in all policies“, also „Gesundheit in allen Politikfeldern“ konkret bedeuten?

Busse: Sämtliche politischen Entscheidungen würden auch auf ihre gesundheitlichen Folgen hin betrachtet. Zur Technikfolgenabschätzung einer neuen Umgehungsstraße zählt nicht nur die Frage, wie viel schneller Lastkraftwagen am Zielort sind. Sondern auch die Frage, ob diese Straße für weniger Lärm in der Innenstadt sorgt. Oder die Nahrungsmittelproduktion: Da würden die Landwirtschaftsministerin, der Gesundheitsminister und die Umweltministerin gemeinsam überlegen, wie eine Nahrungsmittelproduktion aussieht, die gut für Bauern, Bürger und die Umwelt ist. Oder Klimapolitik: Wenn die Temperaturen steigen, steigt auch die Sterblichkeit älterer Menschen. Insofern ist Klimapolitik auch Gesundheitspolitik.

Welche Länder sind hier schon weit?

Busse: In Finnland wird Gesundheit schon automatisch mitgedacht. Bereits 1972 wurde dort ja das Nordkarelien-Projekt angesetzt, mit dem Ziel, die dort sehr hohe kardiovaskuläre Sterblichkeit zu senken – durch Interventionen in der Fleisch- und Milchproduktion, in Schulen etc. Durch den Erfolg wurde der Ansatz dann auf das ganze Land ausgedehnt. Neu ist das im eigentlichen Sinne natürlich nicht – schon Rudolf Virchow hatte ja gesagt, dass Politik weiter nichts als Medizin im Großen ist.

Kommen wir noch einmal auf die Dänen zurück. Sie gehen im Schnitt vier- bis fünfmal im Jahr zum Arzt, die Deutschen 17 mal. Sie sagen: Die hohen Kosten des deutschen Gesundheitssystems entstehen durch hohen Gebrauch. Warum ist das so?

Busse: Weil wir so viele Angebote haben. Die deutschen Notaufnahmen behalten doppelt so viele Patienten da wie die in anderen Ländern. Und zwar, weil wir relativ wenig Ärzte haben und nachts oft nur Assistenzärzte. Sie können und wollen die endgültige Entscheidung, ob jemand nach Hause gehen kann, nicht übernehmen. Und warum haben wir so viele Assistenzärzte statt Fachärzten? Weil wir so viele Krankenhäuser haben. Und weil wir so viele Krankenhäuser haben, ist auch der Druck da, die Betten zu füllen ...

Genauso im ambulanten Bereich: Der beste Patient im deutschen Gesundheitssystem ist einer, der genau einmal pro Quartal kommt, denn die niedergelassenen Ärzte werden nach Quartalen vergütet. Was passiert? Es gibt einen hohen Anreiz, Patienten einmal mehr zur Kontrolle einzubestellen. Die Pille für die gesunde junge Frau wird hierzulande überwiegend in Dreimonatspackungen verkauft. In anderen Ländern schüttelt man darüber den Kopf. Der Hauptabsatzmarkt dort ist die Halbjahrespackung. Falsche Anreize gehen bis in die Feinheiten des Systems hinein, und wir hinterfragen sie nicht.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sprach auf dem letzten Hauptstadtkongress Gesundheit vom „Lernenden Gesundheitssystem“. Sind wir schon eines und was genau wäre das?

Busse: Um wirklich ein lernendes System zu haben, müssen wir aber auch bereit sein zu lernen. Für mich bedeutet es zunächst, dass wir viel, viel konsequenter und kontinuierlich evaluieren. Dass die Evaluationsergebnisse konsequent rückgekoppelt werden und transparent sind. Wenn wir sehen, dass sehr viele Krankenhäuser jeweils sehr wenige Patientinnen einer bestimmten Erkrankung behandeln, und dass diese viel häufiger sterben, dann muss ein lernendes System nicht jahrelang diskutieren, ob diese Krankenhäuser solche Patientinnen nicht mehr behandeln dürfen. Natürlich dürfen sie es nicht. Die Stoßrichtung von Gesundheitsreformen muss sich direkt von dem ableiten, was wir gerade machen!

Professor Dr. med. Reinhard Busse leitet den Fachbereich Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin und ist unter anderem Co-Director des European Observatory on Health Systems and Policies.

https://www.mig.tu-berlin.de/menue/ueber_uns/busse/ https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_Busse

  1. Elmar

    Nur Privatpatienten geniessen optimale Versorgung. Ich kenne den Unterschied besonders in den Krankenhäusern. Bin Gott sei Dank " privat".

    vor 4 Jahren
  2. Carla Röcker

    Vor allen Dingen fehlen uns DIAGNOSEZENTREN, es wird zu viel an Symptomen herumgedoktort, weil keine richtige Diagnose vorgenommen wird. Ich könnte zig Beispiele nennen

    vor 4 Jahren

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